zm114 Nr. 09, 01.05.2024, (722) 36 | ZAHNMEDIZIN ter Erosionen stellt die Wahl des „richtigen“ Restaurationszeitpunkts dar. Eine umfangreiche konservierende oder prothetische Versorgung großflächiger Defekte führt langfristig nur dann zum Erfolg, wenn die Betroffenen hinsichtlich ihrer psychosomatischen Erkrankung als ausreichend „stabil“ und compliant eingeschätzt werden können. Auch hier steht die patientenindividuelle Behandlungsplanung im interdisziplinären Dialog zwischen Zahnärzt*innen, Allgemeinmediziner*innen, Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen an oberster Stelle. Der Beginn der zweiten Behandlungsstufe wird somit patientenspezifisch festgelegt und umfasst die Rehabilitation der intraoralen Erosionsschäden durch Füllungstherapien oder indirekte Restaurationen. Je nach Ausmaß der Zahnhartsubstanzdefekte können die Therapieansätze jedoch auch durchaus komplex werden und neben rein restaurativen auch endodontologische, parodontologische, chirurgische und funktionelle oder kieferorthopädische Therapieverfahren beinhalten. Welche oralen beziehungsweise perioralen Strukturen werden bei häufigem Erbrechen ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen? Welche therapeutischen beziehungsweise präventiven Maßnahmen stehen hier zur Verfügung? Die wissenschaftliche Datenlage zu den Begleiterscheinungen einer Essstörung auf das intraorale Weichgewebe ist sehr begrenzt. Welches Ausmaß die Schäden der Säureeinwirkung durch wiederkehrende Emesis auf Speicheldrüsen und Mundschleimhaut haben, kann aktuell nur schwer evidenzbasiert beantwortet werden. Vereinzelt berichten Autor*innen von Reizzuständen der Mundschleimhaut und einer herabgesetzten Speichelflussrate. Unstrittig ist allerdings, dass es durch erosive Zahnhartsubstanzdefekte zum Absinken der vertikalen Dimension der Okklusion (VDO) kommen kann, ähnlich wie bei einem Abrasionsgebiss durch extensiven Bruxismus. Dies kann auch mit funktionellen Beeinträchtigungen des craniomandibulären Systems sowie Erkrankungen der Kiefergelenke als sekundäre Folge einhergehen. Im Rahmen der Gründung unserer Ambulanz „Zahnmedizin bei Essstörungen“ entstand auch die Zielsetzung, dieses Thema in wissenschaftlicher Hinsicht zu betrachten, um zukünftig einen Beitrag zur Verbesserung der Datenlage zu leisten. Kommen zu Ihnen auch Patientinnen und Patienten, die zwar an Bulimie leiden, aber noch keine Schäden an der Zahnhartsubstanz aufweisen? Welche präventiven Maßnahmen können ergriffen werden, um Schäden vorzubeugen? Das Spektrum der Zahngesundheit der Patient*innen mit Essstörungen variiert stark. Der Fokus unseres Behandlungskonzepts bei Betroffenen ohne bestehende Erosionen liegt auf der Prävention dieser Zahnhartsubstanzschäden. Die Basis dessen bildet neben der Aufklärung und Bewusstmachung ein enges Recall-System, welches patientenindividuell auf Grundlage des Basic Erosive Wear Index (BEWE-Index) festgelegt wird. Inhalt unserer ausführlichen Patientengespräche ist zum einen die Thematisierung der Ätiologie von Erosionen durch Essstörungen, zum anderen klären wir die Betroffenenüber das korrekte Mundhygieneverhalten auf, insbesondere in Bezug auf die Emesis. Wenn die Patient*innen gerne und offen Auskunft über ihre Ernährungsweise geben, bieten wir auch in diesem Kontext Aufklärung in Bezug auf die Zufuhr von exogenen Säuren und wie Säureschäden (etwa durch die kombinierte Aufnahme mit Milchprodukten oder durch zuckerfreie Kaugummis zur Speichelanregung) reduziert werden können. Als Tool der Visualisierung im Rahmen der Patientengespräche dient der Intraoralscan. Durch Überlagern der Scans mehrerer Recall-Termine kann die Entstehung, aber vor allem die Progression von erosiven Defekten über die Zeit für die Patient*innen sichtbar gemacht werden. Ergänzt werden diese präventiven Maßnahmen durch die Anfertigung von Schutz- und Fluoridierungsschienen, welche im digitalen Workflow patientenindividuell angefertigt werden. Sind die Eltern auch einbezogen? Selbstverständlich werden die Eltern minderjähriger Patient*innen eng einbezogen. Auch bei volljährigen Betroffenen kann es auf Patientenwunsch und nach Rücksprache mit dem betreuenden psychiatrischen und psychotherapeutischen Kolleg*innen sinnvoll sein, Vertrauenspersonen mit in die Behandlung einzubeziehen. Dies können Eltern, Partner*in oder auch enge Freunde sein. Werden die Zahnärztinnen und Zahnärzte auch psychologisch geschult? Der Umgang mit dieser sensiblen Patientengruppe bedarf neben den zahnärztlichen Fähigkeiten eines hohen Maßes an Empathie. Aus unserer Sicht kann die große Verantwortung gegenüber den Betroffenen nur durch die Anwendung von Kommunikationstools und die Weiterbildung des zahnärztlichen Personals im Bereich der Grundlagen der Psychosomatik getragen werden. Die Inhalte des entsprechenden Curriculums werden von der Zahnärztin Miriam Ruhstorfer im Rahmen von internen Fortbildungen an das Kollegium weitervermittelt, Kommunikationsschulungen und ernährungswissenschaftliche Grundlagen durch die Ernährungsberaterin und Zahnärztin Charlène Bamberg. Das Gespräch führten Claudia Kluckhuhn und Dr. Nikola Lippe. Initiale Erosionen auf den Okklusalflächen Foto: Carolinum Frankfurt am Main
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