38 | PRAXIS zm114 Nr. 09, 01.05.2024, (724) „Vertrautheit und Sympathie spielen vermutlich eine Rolle“ Im Gespräch zeigen die beiden Autorinnen Alisa Auer und Lisa-Marie Walther auf, wie unverstanden viele Aspekte der Stressübertragung noch sind, welche Faktoren darüber entscheiden, ob es zur Stressansteckung kommt, und welche Auswirkungen diese auf die einzelne Person und auch Gruppen hat Frau Auer, Frau Walther, was bedeuten die Studienergebnisse für Arbeitskontexte in Kleingruppen wie Teams in Zahnarztpraxen oder Tandem-Konstellationen wie einem behandelnden Arzt / einer Ärztin und der Assistenz? Alisa Auer: Wir gehen davon aus, dass diese Stressübertragungsprozesse auch einen Einfluss auf Teamdynamiken haben – beispielsweise darauf, wie Personen miteinander interagieren oder wie Entscheidungengetroffen werden. Bisher können wir jedoch nur spekulieren, wie dieser Einfluss aussieht. Der Grund ist, dass wir bei unserer Studie ein sehr passives Setting hatten, das keine Interaktion zwischen den Personen erlaubte. Das ist im Arbeitskontext natürlich komplett anders, weil die Akteure miteinander interagieren. Wie genau sich das auswirkt, muss jetzt in einem nächsten Schritt wissenschaftlich untersucht werden. Offensichtlich neigen nicht alle Menschen gleichermaßen zu Stressansteckungsreaktionen, in ihrer Studie traf dies nur bei 46 Prozent der Testpersonen zu. Haben Sie eine Vermutung, welche Parameter entscheidend sein könnten? Lisa-Marie Walther: Ja, es gibt schon erste Untersuchungen, was modulierende Faktoren sein können. Man geht davon aus, dass die Stressübertragung dadurch ausgelöst wird, dass der beobachtete emotionale Zustand einer anderen Person eine neuronale Repräsentation für den Zustand im Gehirn des Betrachters aktiviert. Dadurch starten automatisch physiologische Prozesse, die mit diesem Zustand in Verbindung stehen. Die bisherigen Untersuchungen deuten darauf hin, dass aufseiten des Betrachters das Bekanntheitsverhältnis zwischen den beiden Personen und damit die Vertrautheit mit dem beobachteten Stresszustand eine Rolle spielt, ebenso das Ausmaß an auf Stresszustand hinweisenden Informationen und die Empathiefähigkeit. Darüber hinaus sind weitere Parameter denkbar, beispielsweise wie gut eine Person im Erkennen von Emotionen ist oder ob die beobachtete Person dem Beobachter sympathisch ist. Kann die gestresste Person aktiv die Ansteckung Dritter vermeiden – etwa indem sie ihr eigenes Stressempfinden verbalisiert? Auer: Wahrscheinlich nicht. Die Aktivierung mentale Repräsentation passiert ja eher unbewusst. Stressübertragung ist eine Folge nonverbaler Kommunikation, mit der wir unterschwellig Hinweisreize geben und so bei anderen Personen den „Fight or flight“-Modus auslösen, um beim Gegenüber schon einmal im moderaten Maß Energie zu mobilisieren. Walther: Welchen Einfluss Mechanismen haben, die bei eigenem Stress hilfreich sein können, etwa das von Ihnen angesprochene Verbalisieren, ist völlig offen. Da gibt es noch viel Forschungsbedarf. Ist denn davon auszugehen, dass Stressansteckungsreaktionen vergleichbare gesundheitliche Auswirkungen haben wie der Stress der originär betroffenen Person selbst? Auer: Davon gehen wir nicht aus, weil die rein durch Übertragung ausgelöste Reaktion im Vergleich zur primären Stressreaktion relativ schwach ist. Wenn wir jedoch in der Situation interagieren, kann es natürlich sein, dass zu dieser rein passiven Ansteckungsreaktion selbst empfundener Stress hinzukommt, etwa weil das Gegenüber kürzer angebunden ist. Ärger darüber wiederum kann dann zu stärkeren Reaktionen führen, aber das sind alles noch Spekulationen. Ein Detailergebnis ist spannend. So stieg die Herzfrequenz bei den mit Stress angesteckten Personen zeitverzögert. Haben Sie eine Erklärung dafür? Walther: Neben „Fight or flight“ gibt es als gängige Stressreaktion ja auch den ebenfalls unwillkürlichen „Freeze“- Modus, in dem der Gestresste abwartet, was passiert. Da ist es möglich, dass die Ansteckungsreaktion in vollem Umfang erst auftritt, wenn die Unsicherheit der Situation nach dem Ende der Beobachtung aufgelöst wird. Das Gespräch führte Marius Gießmann. beten, ihre eigenen Gefühle, Gedanken und körperlichen Erfahrungen während der Beobachtung aufzuschreiben und die Augenfarbe des TSST-Teilnehmers zu notieren, um Augenkontakt zu gewährleisten. Um potenziellen Antizipationsstress zu vermeiden, der aus der Angst entsteht, selbst in die Testsituation zu geraten, und um sich nur auf die Beobachtung konzentrieren zu können, wurden die Stressbeobachter explizit darauf hingewiesen, dass sie nicht selbst in die Situation des TSST-Teilnehmers geraten würden. Antizipationsstress wurde gezielt ausgeschaltet In der Kontrollbedingung beobachteten die Placebo-Stress-Beobachter einen männlichen Mitarbeiter der Arbeitsgruppe, der eine emotional neutrale Geschichte von fünf Minuten Länge vorlas, gefolgt von einer einfachen Kopfrechenaufgabe – auf beide Aufgaben hatte sich der Mitarbeiter intensiv vorbereitet, um keinerlei Stresssymptome zu zeigen. Die Speichelmessungen erfolgten zu fünf beziehungsweise sieben Zeitpunkten: Alpha-Amylase (sAA) jeweils − 10, + 1, + 10, + 20, + 120 Minuten und Cortisol und Aldosteron − 10, + 1, + 10, + 20, + 30, + 45, + 120 Minuten vor beziehungsweise nach dem Test. Die Herzfrequenz (HR) wurde mittels Brustgurten kontinuierlich erfasst.
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