Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 12

36 | TITEL zm114 Nr. 12, 16.06.2024, (1018) 1950–1979 1980–1989 1990–1999 Gemeldete Noma-Einzelfälle bei immunsupprimierten Erwachsenen, 1950–2019 Most recent reported noma cases 2000–2009 2010–2019 Weltweites Auftreten von Noma-Fällen von 1950 bis 2019, basierend auf dem im jeweiligen Land jeweils letzten gemeldeten Fall Foto: zm/FourLeafLover – stock.adobe.com/Anaïs Galli et al.: Prevalence, incidence, and reported global distribution of noma: a systematic literature review, The Lancet Infectious Diseases, 22 (2022) e221-e230. doi:10.1016/S1473-3099(21)00698-8 NOMA IN EUROPA AUCH SS-ARZT JOSEF MENGELE SUCHTE NACH EINER BEHANDLUNGSMETHODE Die Verwendung des Wortes Noma lässt sich bis Hippokrates (460–377 v. Chr.) zurückverfolgen. Ob es sich bei den von ihm beschriebenen „bösartigen Geschwüren“ tatsächlich um gangränöse Stomatitis gehandelt hat, ist jedoch offen. Die inhaltliche Bedeutung des aus dem Griechischen stammenden Wortes vοn („verschlingen“ oder „weiden“) könne sich auf alle denkbaren pathologischen Prozesse im Gesichts- und Mundbereich wie Stomatitis ulcerosa, Skorbut oder Syphilis beziehen, argumentieren diverse Autoren. Ab dem 17. Jahrhundert mehren sich medizinische Fallbeschreibungen, die eine Gangrän von Wangen, Lippen und Nase erwähnen, Noma wird aufgrund ihres überaus zerstörerischen Charakters aber lange Zeit für ein Krebsgeschwür gehalten. Erst im 19. Jahrhundert finden sich zunehmend Autoren, die die onkogene Ursache von Noma anzweifeln. Um 1867 führten die Niederlande als erstes Land in Europa eine Statistik über die Todesfälle durch Noma ein. Bis 1874 listet diese 207 Fälle auf. Dann verschwindet die Erkrankung aus der Statistik – zu einer Zeit, als die in Europa vorherrschenden Epidemien, vor allem das massive, wiederholte Auftreten von Cholera, Typhus und Masern, sowie die zum Teil katastrophalen hygienischen Zustände und Mangelernährung ein Auftreten der Erkrankung nach heutigem Wissen stark begünstigt haben müssten. Bis 1900 werden jedoch nur 46 Fälle dokumentiert, zehn in den Städten München, Leipzig, Göttingen, Jena und Wien und 36 in St. Petersburg. Im gesamten Deutschen Reich der historisch-politischen Grenzen von 1914 bis 1945 einschließlich Ostpreußen tauchten in der Todesursachenstatistik einzig 1932 Noma-Sterbefälle (98) auf. In den darauffolgenden Jahren ist die Erkrankung dann wieder vollständig aus der deutschen Sterbestatistik verschwunden. Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs kommt es sowohl bei Wehrmachtssoldaten an der Ostfront als auch in den Konzentrationslagern Auschwitz-Birkenau und Bergen-Belsen zu Noma-Fällen in heute nicht rekonstruierbarem Ausmaß. Der SS-Arzt Josef Mengele beginnt daraufhin mit medizinischen Experimenten an schätzungsweise 3.000 eigens für diesen Zweck ausgewählten Kindern und Erwachsenen. Die Tests zeigen, dass bei Noma-Patienten im fortgeschrittenen Gangränstadium durch eine Ernährungsumstellung auf vollwertige Kost sowie eine medizinische Behandlung mit Sulfonamid und Nicotinsäureamid eine Besserung eintritt, ein Aussetzen dieser beiden Interventionen aber zu einem Krankheitsrückfall führt. Die Injektion von Sekreten wiederum, die aus dem gangränösen Wundbereich von Noma-Patienten gewonnen wurden, löst auch bei bis dahin Gesunden großflächige Nekrosen aus. Den besten Überblick zum weltweiten Krankheitsgeschehen von 1950 bis 2019 liefert eine 2022 erschienene Metastudie [Anaïs Galli et al.], die auf Basis von 283 ausgewerteten Untersuchungen über Fälle in insgesamt 88 Ländern berichtet. Für den Zeitraum von 2010 bis 2019 waren es Fälle in 23 Ländern – Afghanistan, Benin, Burkina Faso, China, Kamerun, Tschad, Äthiopien, Ghana, Guinea-Bissau, Indien, Indonesien, Italien, Kamerun, Kenia, Madagaskar, Mali, Niger, Nigeria, Pakistan, Senegal, Südafrika, Südkorea, Togo und Uganda.

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