Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 12

38 | TITEL INTERVIEW MIT DR. DAVID SHAYE „Wir operieren die Glücklichen, die überlebt haben“ Dr. David Shaye arbeitet jedes Jahr sechs Monate in Nigeria für Ärzte ohne Grenzen und operiert dort NomaÜberlebende. Er berichtet darüber, was die Behandlung so besonders macht, mit welchen chirurgischen Herausforderungen er konfrontiert wird und was wir von den Menschen dort lernen können. Sie operieren jedes Jahr für sechs Monate Noma-Überlebende in Sokoto, Nigeria. Warum tritt die Erkrankung gerade dort so häufig auf? Dr. David Shaye: Noma ist eine opportunistische Erkrankung, die von der Mundschleimhaut ausgeht und sich sehr schnell auf das umliegende Weichund Hartgewebe des Gesichts ausbreitet. In der Regel befällt sie immunschwache und mangelernährte Menschen. Die Stadt Sokoto beziehungsweise der gleichnamige Bundesstaat liegen im Norden Nigerias. Dort tritt Unterernährung, wie in vielen Teilen der Sub-Sahara-Region, endemisch auf. Deshalb gibt es viele Noma-Fälle. Leider erkranken vorwiegend Kinder daran. Technisch gesehen handelt es sich jedoch nicht um eine Tropenkrankheit. Noma wurde auch in Europa jahrhundertelang beobachtet. Die Erkrankung verschwand mit allgemeinen Verbesserungen der medizinischen Versorgung und sanitären Einrichtungen, erlebte aber ein Wiederaufleben in den Konzentrationslagern der Nazis im Zweiten Weltkrieg. Warum ist die Sterberate bei Noma so hoch? Das liegt vor allem daran, dass die Krankheit meist nicht behandelt wird. 90 Prozent der Menschen, die nicht behandelt werden, sterben. Nur rund zehn Prozent der Erkrankten überleben. Bekämen die Menschen frühzeitig eine Basisbehandlung, wäre es genau andersherum: Zehn Prozent der Menschen würden sterben und 90 Prozent würden überleben. Die Patienten, die wir in Sokoto operieren, sind also die Glücklichen, die überlebt haben. Nach dem Überleben der akuten Infektion laufen diese Menschen häufig für mehrere Jahre mit einer schweren Gesichtsdeformation herum. Was genau umfasst die Basisbehandlung bei Noma? Die ersten Maßnahmen sind einfach: Antibiotika, intravenöse Flüssigkeitszufuhr, Ernährung und Wundversorgung. Und das kann in jedem Gesundheitszentrum geschehen. Es geht eigentlich nur um die Erkennung und schnelle Behandlung. Warum werden nur so wenige Erkrankte behandelt? Das Problem ist, dass in den frühesten Noma-Stadien die sichtbaren Symptome oder Anzeichen mild sind. Die Bevölkerung steht unter erheblichem finanziellem Stress, so dass viele mit einfachen Leiden keinen Arzt aufsuchen. Das gilt nicht nur für Noma. In afrikanischen Gegenden mit endemischer Unterernährung suchen Menschen ärztliche Hilfe nur auf, wenn es ein wirklich schweres Problem gibt. Nicht wenige laufen mit riesigen Tumoren herum, weil es nicht in ihren finanziellen Möglichkeiten liegt, für eine Behandlung mehrere Tage zu reisen. Wenn jemand sieben Kinder hat und bei einem der Kinder eine kleine Schwellung auftritt, dann ist das noch kein Grund, zum Arzt zu gehen. Deshalb sehen wir Noma-Patienten erst, wenn bereits ein Teil des Gesichts fehlt. Die wichtigste Frage ist: Können die lokalen Gesundheitszentren, Krankenschwestern oder Gemeindegesundheitsarbeiter so geschult werden, dass sie Noma frühzeitig erkennen, um schnell eine Basisbehandlung mit Antibiotika einzuleiten? Sobald die Erkrankung zu weit fortgeschritten ist, wird die Behandlung schwieriger und es geht schnell um Leben oder Tod. Zu Ihnen kommen die Patienten erst, wenn eine plastische Deckung des Defekts vorgenommen werden soll. Wie gehen Sie bei der Operationsplanung vor, welche Techniken verwenden Sie? Wir versuchen zunächst, das verlorene Gewebe zu ersetzen, um einerseits aus sozialen Gründen die Form des Patienten und andererseits die Funktion so weit wiederherzustellen, dass eine Nahrungsaufnahme möglich ist. Egal, ob man in Nigeria oder hier in Harvard ist, große Defekte im Gesicht zu rekonstruieren, ist wirklich anspruchsvoll. Keiner der Patienten wird jemals wieder so aussehen wie vor der Operation. Dr. David Shaye arbeitet als Chirurg mit dem Spezialgebiet Gesichtsplastik und rekonstruktive Chirurgie in der Massachusetts Eye and Ear Klinik in Boston, USA. Er lehrt an der Harvard Medical School als Assistenzprofessor für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde sowie Kopf- und Halschirurgie. Darüber hinaus ist er für Ärzte ohne Grenzen im Noma-Programm in Nigeria und anderen Teilen von Afrika tätig. Foto: Jessica Ellis Shaye zm114 Nr. 12, 16.06.2024, (1020)

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