Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 12

TITEL | 39 Wenn man allerdings einen NomaFall in den Vereinigten Staaten oder in Europa operieren würde, würde man große Mengen an Knochen und Weichgewebe als freie Transplantate in den Defekt bewegen. Wir versuchen aber, keinen freien Gewebetransfer durchzuführen, weil dafür mikrovaskuläre Chirurgie notwendig wäre. Was wir hier brauchen, sind dagegen einfache, sichere und nicht so zeit- und arbeitsintensive Operationsmethoden. Daher bevorzuge ich Techniken, die teilweise Jahrhunderte alt sind, und auf gestielten Lappen beruhen, beispielsweise den Deltopectoral-Lappen. Für diese chirurgischen Techniken habe ich sehr alte Lehrbücher herangezogen, sogar welche aus Zeiten des Ersten oder des Zweiten Weltkriegs – Techniken, die nur alte Chirurgen jemals gesehen haben. Der Vorteil an diesen Methoden ist, dass sie sicher und schnell erlernbar sind, denn wir versuchen, sie auch den lokalen Ärzten beizubringen. Ein wichtiger Aspekt bei der Operation von Noma-Patienten ist die Vernarbung. Die Patienten vernarben nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich – und bekommen dann einen schweren Trismus. Dieser kann auch knöchern, durch eine Fusion des Processus coronoideus mit dem Jochbein entstehen. Diese Patienten können kaum Nahrung aufnehmen. Die chirurgische Entlastung eines knöchernen Trismus ist allerdings nicht unbedenklich, da sie Probleme mit den Atemwegen mit sich bringen kann. Für die Rekonstruktion gilt es zu beachten, dass die Kontraktion einen Großteil der Weichteildefekte verbirgt. Um den gesamten Defekt wiederherzustellen, braucht man in der Regel die drei- oder vierfache Gewebemenge. Welche Materialien werden in der NomaChirurgie verwendet und warum? Wir verwenden ausschließlich autologes Gewebe und keine fremden Implantate, weil das ein großes Infektionsrisiko darstellt. Unser Team ist nur dreioder viermal im Jahr vor Ort. Wenn in der Zwischenzeit Komplikationen auftreten, ist niemand dort, um diese zu behandeln. Wie sieht es mit der dentalen Rehabilitation aus? Wenn die Patienten für eine rekonstruktive Chirurgie zu uns kommen, haben die Patienten auch Zahnprobleme. In der Regel ist es aber so, dass ihnen eine Wange, eine Nase oder etwas Ähnliches fehlt. Wenn wir also eine Rekonstruktion in Erwägung ziehen und Gewebe transplantieren, dann ist das eine große Investition für alle. Wenn es Zähne gibt, die keine Funktion mehr haben oder kariös sind, entfernen wir sie im Laufe der Behandlung. Wir müssen aber oft auch gesunde Zähne entfernen, wenn diese im Bereich des Defekts stehen. Es gibt keine Möglichkeit, Zahnersatz, Implantate oder Kieferorthopädie in die Behandlung zu integrieren. Deshalb ist das Hauptziel die Weichgewebeabdeckung. Ein interessantes Thema aus zahnmedizinischer Sicht ist, dass der Musculus orbicularis oris durch den Druck die Zähne an Ort und Stelle hält. Wenn ein Teil der Wange fehlt, wandern die Zähne im Laufe der Zeit in verschiedene Richtungen, häufig auch nach extraoral. Wir nennen das dentale Anarchie. Man sieht dieses Phänomen nicht nur bei Noma, sondern zum Beispiel auch bei Erwachsenen mit nicht operierten Lippenspalten. Wie sieht die postoperative Pflege aus und wie lange dauert sie? Wie gehen Sie mit Komplikationen um? Die Patienten in Afrika sind sehr leidensfähig und bleiben freiwillig auch über längere Zeiträume im Krankenhaus. Sie machen eine weite Reise für die Behandlung und bleiben oft ein bis zwei Monate, bevor sie zurück nach Hause gehen. Es ist nicht wie in Europa, wo die Patienten so schnell wie möglich nach Hause wollen. Ärzte ohne Grenzen investieren viel Arbeit in die postoperative Nachsorge. Dabei handelt es sich um Routinen wie nach jedem operativen Eingriff. Dazu gehören grundlegende Dinge wie Monitoring der Vitalzeichen, Schmerzstillung, Wundpflege und – wenn nötig – Antibiotika. Die beste Prävention für postoperative Komplikationen ist eine gute Patientenselektion und OPPlanung sowie eine technisch saubere Operationstechnik. Die riskantesten Operationen werden in der Regel am Anfang unseres Aufenthalts in Sokoto durchgeführt, sodass wir noch vor Ort sind, wenn Schwierigkeiten auftreten. Als zweites Back-up ziehen wir immer Chirurgen hinzu, die mit der großen nigerianischen Lehruniversität an diesem Ort verbunden sind (Usmanu Danfodiyo University Teaching Hospital). Wenn es nach unserer Abreise zu Komplikationen kommt, können die nigerianischen Chirurgen übernehmen. Ich bin für gewöhnlich der einzige internationale Chirurg im Team. Meinen Sie, eine Zusammenarbeit zwischen Zahnärzten und Chirurgen bei der Behandlung von Noma-Patienten wäre in Zukunft denkbar? Wir würden uns eine möglichst multidisziplinäre Versorgung wünschen. Bei der Versorgung von Lippen-KieferGaumenspalten in Afrika gibt es bereits diese multidisziplinären Teams. Ich halte es allerdings für wahrscheinlicher, dass zu dem Zeitpunkt, an dem all diese Verfeinerungen der Behandlung von Noma möglich sind, die Erkrankung – hoffentlich – gar nicht mehr existiert, genauso wie es vor einigen hundert Jahren in Europa geschah. Damals führten eine Reihe von Verbesserungen im Bereich der Hygiene und der allgemeinen Gesundheit dazu, dass Noma immer seltener wurde. Auch Unterernährung war nicht so stark verbreitet. Was auch immer diese Komponenten waren, sie veränderten sich zm114 Nr. 12, 16.06.2024, (1021) Dentale Anarchie durch das Fehlen des Musculus orbicularis oris bei einem jungen Mädchen, das Noma überlebt hat Foto: [Shaye et al., 2019]

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