Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 12

52 | GESELLSCHAFT STUDIE UNTERSUCHTE GEFEILTE ZÄHNE UND TURMSCHÄDEL Körpermodifikationen bei den Wikingern In den vergangenen Jahren fand die Wissenschaft zunehmend Hinweise auf dauerhafte Körpermodifikationen bei den Wikingern. Ein deutsches Forscherteam hat Sinn und Funktion der gefeilten Zähne und der Turmschädel neu gedeutet. Die Gruppe um Matthias S. Toplak, Wikingermuseum Haithabu, und Lukas Kerk, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, untersuchte für ihre Studie die Überreste von 130 männlichen Wikingern aus dem 11. Jahrhundert, deren Zähne offenbar absichtlich transformiert wurden. Die meisten von ihnen stammten von der schwedischen Insel Gotland und hatten in ihre Schneidezähne horizontale Furchen gefeilt. Für dieses ungewöhnliche Phänomen gab es Toplak zufolge bisher drei Erklärungen: „Als Markierung von Sklaven, für ein besonders grimmiges, kriegerisches Aussehen, oder als Erkennungsmerkmal früher Handelsgilden.“ Wikinger mit gefeilten Zähnen waren Kaufleute, keine Krieger Dieser zweiten Deutung schließen sich die deutschen Wissenschaftler an: Sie vermuten, dass die Markierungen kodierte Zeichen für die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft darstellten – möglicherweise wirklich zu Händlern, die im Raum Gotland und auf dem nahen schwedischen Festland aktiv waren. „Wir gehen davon aus, dass dieser Brauch als Identifikationsmerkmal einer geschlossenen Gruppe von Kaufleuten diente“, erläutert Toplak. „Ihre Mitglieder konnten sich so gegenseitig erkennen.“ Der aktuelle Forschungsstand deute darauf hin, dass die Feilungen Schiffsgemeinschaften oder Handelsverbände, späteren Gilden ähnlich, kennzeichneten. Schließlich sind die Orte, an denen die Wikinger begraben wurden, im 11. und im 12. Jahrhundert allesamt wichtige Handelszentren gewesen, darunter Kopparsvik und Slite auf Gotland und Sigtuna und Birka auf dem Festland. „Sicher erscheint zumindest, dass die Feilungen, zumeist auf den Schneidezähnen des Oberkiefers, unter Oberlippe und Bart nur sehr eingeschränkt sichtbar waren, selbst wenn man sie mit einer dunklen Paste beispielsweise aus Ruß einfärbte“, erzählt Toplak. Der Träger musste seine bearbeiteten Zähne demnach ganz bewusst zeigen: Dieser Umstand spreche also für ihren Einsatz als Initiationsritus und konspiratives Erkennungszeichen eines geschlossenen Verbunds und gegen die Funktion als modischer oder ästhetischer Körperschmuck. Die absolute Mehrheit der Zahnfeilungen sei zudem bisher aus Männergräbern bekannt, die keinerlei Hinweise auf eine Kriegeridentität des Toten aufweisen, berichtet Toplak. Die vermutlich extremste Form von Körpermodifikationen in der Wikingerzeit waren jedoch die sogenannten Turmschädel. Eine Besonderheit, die Toplak zufolge über ein Jahrhundert weitestgehend ignoriert wurde: Auf drei weit voneinander entfernt liegenden Gräberfeldern auf der schwedischen Insel Gotland waren drei erwachsene Frauen mit typisch gotländischer Tracht bestattet worden, deren Köpfe zu Turmschädeln deformiert waren. Dabei wurden zumeist durch eine zirkulär um den Kopf umlaufende Bandagierung die elastischen Schädelknochen von kleinen Kindern in den ersten ein bis zwei Lebensjahren so gepresst, dass der Kopf eine langgezogene, eiförmige Form erhielt. Die Schädeldeformierungen waren wahrscheinlich ein modisches Statussymbol oder dienten der Präsentation einer bestimmten Identität. Das vertraute Bild der Wikinger muss revidiert werden Trotz ihrer Lage zwischen anderen Wikingergräbern waren die drei Frauen von Gotland lange Zeit in das 6. Jahrhundert datiert und für merowingerzeitliche Langobardinnen gehalten worden – entsprechend der damaligen Forschungsmeinung, wonach die Sitte der Turmschädel in Europa mit dem Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter endete. Toplak: „Eine genauere Untersuchung dieser Gräber und der Trachtbeigaben – bei zwei Bestattungen bestehend aus reichen Fibel- und Schmuckgarnituren – und dem Kontext der Gräberfelder zeigt jedoch eindeutig, dass alle drei Gräber in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts angelegt worden sein müssen.“ zm114 Nr. 12, 16.06.2024, (1034) Gefeilte Zähne eines männlichen Individuums in Slite, Gemeinde Othem, Gotland Foto: Lisa Hartzell

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