Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 12

GESELLSCHAFT | 53 Foto: MirosławKuźma / Matthias Toplak Wie diese in Skandinavien ansonsten völlig unbekannte Sitte nach Gotland gelangte, sei noch völlig ungeklärt. Vielleicht hatten die drei Frauen die ersten Lebensjahre als Kinder gotländischer Händler in Südosteuropa verlebt oder wurden dort sogar geboren? „Enge Handelsverbindungen zwischen Skandinavien und besonders Gotland in die osteuropäischen Gebiete und bis hinunter in das Schwarze und das Kaspische Meer sind für die Wikingerzeit durch archäologische Funde wie auch historische Quellen gut belegt“, betont Toplak. „Veränderungen am Körper zur Zurschaustellung der Identität beziehungsweise als Schmuck waren somit vereinzelt auch in der Wikingerzeit üblich“, resümiert Toplak. Die mit der Vorstellung des wilden Wikingerkriegers assoziierten Tätowierungen seien zwar wahrscheinlich, könnten aber nicht zweifelsfrei belegt werden: „Stattdessen lassen sich mit Zahnfeilungen und Schädeldeformationen zwei unerwartete Formen von Körpermodifikationen nachweisen, die neues Licht auf das altbekannte und vertraute Bild der Wikingerzeit werfen.“ ck Die Studie: Toplak, M. S. and Kerk, L.: (2024) „Body Modification on Viking Age Gotland: Filed Teeth and Artificially Modified Skulls as Embodiment of Social Identities”, Current Swedish Archaeology, 31, pp. 79-111. doi: 10.37718/CSA.2023.09. zm114 Nr. 12, 16.06.2024, (1035) DAS WIKINGERGRAB UND SEINE GESCHICHTE Das Gräberfeld von Kopparsvik aus der Spätwikingerzeit lag an der Westküste von Gotland, wenige hundert Meter südlich der mittelalterlichen Stadtmauer von Visby. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts fand man bei der industriellen Erschließung des Geländes Skelettteile und Schmuck, aber erst in den 1960er Jahren wurde der Bereich großflächig untersucht und ein Gräberfeld mit über 300 Bestattungen ausgegraben. Obwohl bereits damals deutlich wurde, dass sich viele der Bestattungen deutlich von dem unterschieden, was auf den übrigen Gräberfeldern Gotlands zu Tage kam, dauert es mehrere Jahrzehnte, bis das Fundmaterial in den Archiven wiederentdeckt und aus seinem Dornröschenschlaf gerissen wurde. Mit über 330 ausgegrabenen von ursprünglich schätzungsweise 400 bis 450 Gräbern, die teilweise durch die industrielle Nutzung des Geländes zerstört wurden oder mutmaßlich noch unentdeckt im Umfeld des Industriegebietes ruhen, war Kopparsvik das größte wikingerzeitliche Gräberfeld Gotlands. Erste Bestattungen können an den Übergang vom 9. zum 10. Jahrhunderts. datiert werden, der Großteil der Gräber wurde im Laufe des 10. bis zum Beginn des 11. Jahrhunderts. angelegt. Die zweite prägende Entdeckung wurde erst in den letzten Jahren von der schwedischen Anthropologin Caroline Arcini gemacht: Über drei Dutzend der bestatteten Männer wiesen an den Schneidezähnen horizontal eingefeilte Riefen auf. Zahnfeilungen sind in vielen Kulturkreisen eine übliche Form von Initiationsriten, aus der skandinavischen Wikingerzeit wie generell aus Europa waren jedoch lange keine vergleichbaren Fälle bekannt. Erst in den letzten Jahren werden immer mehr Fälle dieser Modifikationen zumeist im östlichen Skandinavien – Birka, Sigtuna, Gotland, Öland und Südschweden – entdeckt, der Großteil der etwa 100 bekannte Individuen stammt von Kopparsvik. Erste Zeitungsartikel und Fernsehdokumentationen deuteten die Zahnfeilungen als Ausdruck einer kriegerischen Elite, die sich durch diese Form der Modifikation ein besonders grimmiges Aussehen geben wollte. Obwohl diese These dem populären Bild des wilden Wikingerkriegers entspricht, weisen die Fakten in eine andere Richtung. Bis auf einzelne Ausnahmen, wie den enthaupteten Mann in dem bekannten Massengrab von Weymouth in England, gab es bei keinem der Männer mit Zahnfeilungen Hinweise auf eine Kriegertätigkeit. Kaum einer war mit Waffen bestattet worden und nur einzelne hatten verheilte oder tödliche Verletzungen der Knochen, die auf eine Beteiligung an gewalttätigen Auseinandersetzungen schließen ließen. Die Mehrheit dieser Männer war allerdings an wichtigen damaligen Handelsplätzen bestattet worden. Wahrscheinlicher ist daher, dass es sich bei den Zahnfeilungen um einen Initiationsritus und ein Identifikationsmerkmal eines geschlossenen Händlerverbundes ähnlich späterer Gilden handelte. Dieser Theorie folgend könnten sich Angehörige dieses Verbundes durch die Zahnfeilungen ausweisen und erhielten möglicherweise Handelsvorteile, Schutz oder andere Privilegien, die im Hochmittelalter maßgeblich für den Erfolg des Konzeptes von festen Handelsgilden wurden. Quelle der Informationen ist der Blog von Dr. Matthias Toplak, Direktor des Wikinger Museums Haithabu in Busdorf bei Schleswig. Der Schädel einer etwa 55 bis 60 Jahre alten Frau von dem Gräberfeld von Havor auf Gotland, wurde künstlich zu einem Turmschädel verlängert. Foto: SHM/Johnny Karlsson Zeichnung einer bestatteten Frau mit einem Turmschädel und Grabbeigaben in der Gemeinde Hablingbo, Gotland

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