Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 12

78 | ZAHNMEDIZIN die selbst bei „erheblichem Daumennageldruck“ („strong thumbnail force“) einer Ablösung widerstanden. Die Haftung interpretierte er ebenfalls als ein rein physikalisches Phänomen. Im Fall, dass der Kunststoff mechanisch abgetrennt worden war, zeigte sich die Schmelzoberfläche zunächst opak und weiß, um nach einigen Tagen wieder ihre ursprüngliche Erscheinungsform anzunehmen. Vergleich der beiden Methoden Die beiden 1949 und 1955 beschriebenen Methoden weisen starke Unterschiede auf. Während die 1949 beobachtete Haftung von Acrylatkunststoff an geätztem Schmelz als unerwünschterEffekt eingestuft wurde, der die Realisierung einer experimentellen Studie behinderte, war die 1955 beschriebene Haftung ein erwünschtes Resultat. Die Haftungsergebnisse der Studie von 1949 variierten stärker als dies in der Studie von 1955 der Fall war. Ein Grund für die große Variationsbreite wurde damals nicht gefunden. Ein Vergleich der Methoden von 1949 und 1955 gibt mehrere Erklärungsansätze: n 1949 waren die Zahnoberflächen im Gegensatz zur späteren Untersuchung vor dem Anätzen nicht gereinigt worden. n Zudem fand die Ätzung mit 5-prozentiger Salpetersäure statt, die offenbar kein so effektives Ätzmuster wie 85-prozentige Phosphorsäure bewirkte. n Die Haftfläche betrug lediglich 1 mm², während sie bei Buonocore circa5mm² umfasste. n Der bei der früheren Methode genutzte dünne Kunststofffilm des Prothesenmaterials Paladon hatte nach seinem Erstarren vermutlich keine so starke Polymerisationsrate und Festigkeit wie der später verwendete, selbsthärtende, in wesentlich höherer Schichtdicke aufgetragene Kunststoff. Gemeinsam war beiden Methoden, dass menschliche Zähne untersucht wurden, die nach dem Ätzen trotz des Einsatzes unterschiedlicher Säuren ein makroskopisch einheitlich erscheinendes Ätzmuster (weiße und opake Oberflächenstruktur nach Trocknen) aufwiesen, das wieder verschwand, wenn es den Bedingungen der Mundhöhle ausgesetzt worden war. Das wichtigste gemeinsame Merkmal war, dass es trotz höchst unterschiedlicher Versuchsbedingungen zu einem Haftungseffekt gekommen war. Differenzierung der eingesetzten Acrylatkunststoffe Die frühen Etappen zur Entwicklung und Anwendung von Kunststoffen auf Acrylatbasis für allgemeine und zahnmedizinische Zwecke wurden 2021 und 2022 von Staehle und Sekundo beschrieben [Staehle und Sekundo, 2021, 2022]. Einige Meilensteine finden sich in den Tabellen 1 und 2. Paladon Das 1949 verwendete Präparat Paladon war der erste Acrylatkunststoff überhaupt, bei dem eine Adhäsion auf geätztem Schmelz festgestellt wurde. Acrylatkunststoffe wurden 1930 von dem Chemiker Walter Bauer, der bei der in Darmstadt ansässigen Firma Röhm & Haas AG beschäftigt war, in die Zahnmedizin eingeführt. Zunächst wurden sie als bereits ausgehärtete Präparate angeboten, die unter Hitze und Druck verformt werden konnten (ein Vorgang, der als „Trockenverfahren“ bezeichnet wurde). 1936 wurde die „trockene“ Verarbeitungstechnik durch das von dem Zahntechniker Gottfried Roth erfundene „Nassverfahren“ abgelöst. Hierbei wurde das Polymerpulver Polymethylmethacrylat (PMMA) mit der Monomerflüssigkeit Methylmethacrylat (MMA) vermischt. Die dadurch entstandenen, plastisch verformbaren Massen wurden in eine Form gepresst und in kochendem Wasser ausgehärtet zm114 Nr. 12, 16.06.2024, (1060) ENTWICKLUNG VON KUNSTSTOFFEN AUF ACRYLATBASIS Jahr Vorgänge Namen und Quellen 1843 Entdeckung der Acrylsäure Josef Redtenbacher, Chemiker [Redtenbacher, 1843] 1865 Entdeckung der Methacrylsäure Edward Frankland und Baldwin Francis Duppa, Chemiker [Frankland und Duppa, 1865] 1877 Entdeckung der Umwandlung von flüssiger Methacrylsäure in eine harzige Substanz Rudolf Fittig und Ludwig Paul, Chemiker [Fittig und Paul, 1877] 1880 Studien über das Erstarrungsverhalten von Acrylsäuremethylester und Entdeckung der Lichtpolymerisation Wilhelm August Kahlbaum, Chemiker [Bauer, 1948; Kahlbaum, 1880; Weber und Deußing, 2020] 1901 Untersuchungen über die Verfestigungsprozesse von Acrylsäuremethyl- und Acrylsäureäthylester Otto Röhm, Chemiker [Röhm, 1901] 1920 Begründung der Polymerchemie Hermann Staudinger, Chemiker [Staudinger, 1920] 1928 Synthese von Methylmethacrylat (MMA) zu Polymethylmethacrylat (PMMA) Walter Bauer, Chemiker [Bauer, 1928] 1933 Herstellung von PMMA-Scheiben Otto Röhm, Chemiker [Röhm, 1933] Tab. 1: Etappen zur Entwicklung und Anwendung von Kunststoffen auf Acrylatbasis für allgemeine Zwecke von 1843 bis 1933 (nähere Erläuterungen siehe [Staehle und Sekundo, 2022]) ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden.

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