Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 14

ZAHNMEDIZIN | 37 In den meisten deutschen Zentren beginnen die kieferorthopädische und die primäre chirurgische Rekonstruktion von Lippe, Nase, Kiefer und Gaumen bereits im ersten Lebensjahr [Lethaus et al., 2021; Beckmann, 2023; Ziemann und Sander, 2023]. Das Konzept des Zentrums für Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und kraniofaziale Anomalien der Universitätsmedizin Mainz basiert auf dreißigjähriger Erfahrung und wird kontinuierlich durch aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse weiterentwickelt (Abbildungen 7 und 8). Der individuelle Zeitpunkt der Behandlungsschritte erfolgt gemäß dem Allgemeinzustand, der Entwicklung des Säuglings und anhand der Breite der Spalte [Berkowitz et al., 2005]. Bereits in der ersten Lebenswoche wird bei Babys mit vollständigen Spalten oder breiten Gaumenspalten eine MundNasen-Trennplatte (Trinkplatte) durch die Kieferorthopädie angefertigt, um die Nahrungsaufnahme zu erleichtern und die Kiefersegmente für die Lippenspaltplastik optimal zu positionieren. Mit der Normalisierung der Zungenlage und der Zungenfunktion wird ein ungehindertes und damit kontrolliertes Wachstum der Alveolar- und Gaumenfortsätze unterstützt. Der Lippenverschluss erfolgt mit drei bis sechs Monaten. Im Alter von neun bis zwölf Monaten folgt die Palatoplastik zum Verschluss des Gaumens und Gaumensegels (harter und weicher Gaumen). Viele Kinder benötigen im späten Kindergartenalter (vier bis sechs Jahre) eine kieferorthopädische Frühbehandlung, um Defizite der Kieferstellung auszugleichen und ein normales weiteres Wachstum zu gewährleisten. Hierbei kommen meist herausnehmbare Apparaturen zum Einsatz. In diesem Alter bereitet sich der bleibende Eckzahn auf seinen Durchbruch in die Mundhöhle vor. Zwischen dem achten und dem zwölften Lebensjahr erfolgt zur Vorbereitung auf die Kieferspaltosteoplastik mithilfe herausnehmbarer oder festsitzender Apparaturen eine etwa sechs- bis neunmonatige kieferorthopädische Behandlung zur Dehnung des Oberkiefers. Derzeit wird die Osteoplastik im Wechselgebiss vor Durchbruch des Eckzahns favorisiert, unter Verwendung von autologem Knochen, meist Beckenkammspongiosa [LaRossa et al., 1995]. Ziele sind die Stabilisierung des Zahnbogens, eine Verbesserung des Knochenangebots für die spaltbenachbarten Zähne und die Schaffung eines knöchernen Lagers für den Zahndurchbruch oder ein späteres Zahnimplantat [Lauer et al., 2023]. Bei der Betreuung bis zum Abschluss des Wachstums ergänzt das begleitende Beobachten der Entwicklung (sechsmonatige bis jährliche Kontrollen) die möglichst kurzen, intensiven Behandlungsphasen in den verschiedenen Fachgebieten [Pfeifauf et al., 2019]. Regelmäßige Nachsorgeuntersuchungen sind notwendig, um aufkommende Probleme frühzeitig zu erkennen und erforderliche Behandlungsschritte einzuleiten. Bei einigen LKG-Patienten kann nach dem primären Gaumenverschluss ein Restloch oder eine Gaumensegelschwäche bestehen, was unter dem Begriff „velopharyngeale Insuffizienz“ zusammengefasst wird [Setabutr et al., 2015]. Zur Verbesserung der Stimmund Lautbildung kommen bei muskulären Problemen eine Revision oder Velopharyngoplastik infrage, die vor der Einschulung, idealerweise bis zum fünften oder sechsten Lebensjahr, durchgeführt werden sollte. Bei breiten Spalten, Keloidbildung und Diskontinuitäten im Lippen-Rot-Weiß können korrekturbedürftige Narben im Bereich der Oberlippe auftreten [Monson et al., 2014]. Ebenso sind Nasenkorrekturen nach Abschluss des Wachstums (Rhinoplastik) bei funktionellen (zum Beispiel Nasenatmungsbehinderung, Septumdeviation) und ästhetischen Problemen (zum Beispiel fehlender Nasentip auf der Spaltseite, Asymmetrie) indiziert. Eine unzureichende Entwicklung des Mittelgesichts kann zu einer Größenabweichung von Ober- und Unterkiefer führen, die bei 25 bis 60 Prozent der Kinder nicht allein durch eine kieferorthopädische Therapie behoben werden kann [Yamaguchi et al., 2016]. Seit den 1970er-Jahren werden Spaltdeformitäten durch orthognathe zm114 Nr. 14, 16.07.2024, (1211) Abb. 5: Verlauf der Frontalansicht der Patientin über die Behandlungszeit Abb. 6: Verlauf der Profilansicht der Patientin über die Behandlungszeit ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden. Fotos: Universitätsmedizin Mainz

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