Die Urlaubszeit ist dazu da, um Kraft für die Herausforderungen des Alltags zu tanken. Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das hoffentlich auch in diesem Jahr gelungen. Einem guten Freund leider nicht. Sein angestellter Zahnarzt verwechselte beim Versuch, die SMC-B-Karte freizuschalten, die PIN. Nach dreimaliger Falscheingabe wurde er nervös, wollte aber den Chef nicht im Urlaub stören und rief stattdessen den Support der Praxissoftware an. Dort coachte man ihn unglücklicherweise zu dem Punkt, wo eine neue SMC-B-Karte bestellt werden musste. Dauer vier Wochen, mit Glück vielleicht auch nur zwei. Für den Freund war die Erholung zu Ende und der Stress, die Praxisabläufe auf die Ausnahmesituation umzustellen, begann. Wer kennt solche Probleme nicht, sei es in der Praxis oder im Privatleben: Computer, die dafür entwickelt wurden, Abläufe zu vereinfachen, bewirken oft genug das Gegenteil. Dabei ist diese Erkenntnis nicht neu. 1987 formulierte der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Robert Solow sein Paradoxon: „Man kann das Computerzeitalter überall sehen, außer in der Produktivitätsstatistik.“ Viele Wissenschaftler haben sich seither mit dieser an den Wirtschaftsdaten ablesbaren Tatsache beschäftigt. In Wellen hieß es, Solow sei nun widerlegt, um dann neu bestätigt zu werden. Dabei scheint Solow die Erklärung dafür selbst gegeben zu haben, als er sagte, dass nicht die Möglichkeiten ausschlaggebend sind, die ein digitales Produkt verspricht, sondern wie effizient wir Menschen sie nutzen können und wollen. Und das ist dann schon wieder Alltagswissen. Jeder, der ein neues Auto, einen neuen Fernseher oder ein neues Praxisgerät kauft, hat eine Ahnung davon, wie viele Funktionen er ungenutzt lässt, weil die Anleitung unverständlich oder die Bedienung zu komplex ist. Kann es sein, dass immer dann, wenn wir uns an eine Produktgeneration gewöhnt haben und sie besser nutzen könnten, schon wieder die nächste da ist und alles von vorne beginnt? Aktuell zeigt uns die Diskussion um Wärmepumpe und E-Auto, dass sinnvolle Weiterentwicklungen immer auf Beharrungskräfte treffenundsich schlicht nicht erzwingen lassen. Die digitale Welt könnte wesentlich effizienter sein, wenn wir sie auf ein menschenfreundliches Tempo verlangsamen würden. Das Solow-Paradoxon sollte besser so lauten: Langsamer ist schneller. Wenn Sie mögen, gäbe es hier noch ein weiteres digitales Paradoxon. Anfang April sprach Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach auf dem DMEA-Kongress für digitale Gesundheitsversorgung in Berlin. Mit der elektronischen Patientenakte und dem digitalen Forschungsdatensatz sei ein Anfang gemacht, um sämtliche Routinedaten pseudonymisiert zusammenzubringen und daraus den weltweit größten Medizindatensatz entstehen zu lassen. Künstliche Intelligenz werde darin Muster für Behandlungserfolge erkennen, egal, ob wir Menschen das dann nachvollziehen könnten oder nicht. Damit entsteht der Gegenentwurf zu unserer fast 300-jährigen wissenschaftlichen Tradition, die mit Laborexperimenten und immer ausgeklügelteren Vergleichsgruppen versucht, Zusammenhänge tatsächlich auch zu verstehen. Aktuell sind wir im KI-Hype und können gar nicht beurteilen, was sie wirklich kann, also schauen wir uns doch einfach mal die Qualität der angepriesenen Daten an. „Wild“ aggregierte Informationen bilden nur den aktuellen Durchschnitt medizinischer Behandlungen ab, innovative Konzepte gehen unter. Die ärztlichen Akteure sind weder kalibriert noch verblindet. Niemand weiß, ob Anamnese, Diagnose und Therapie regelgerecht abgelaufen sind und welchen Anteil Placebo- oder Nocebo-Effekte hatten. Datenquerschnitte lassen nur zeitgleiche Abläufe erkennen, aber keine Kausalitäten. Das und noch viel mehr begründen ein statistisches „Rauschen“, mit dem Muster schlicht überdeckt werden. Katharina Zweig, Professorin für Informatik, formulierte deshalb „Big Data ist keine Wissenschaft“ und Gerd Antes, ehemaliger Direktor des Deutschen Cochrane Zentrums, sagt „Mehr Daten bedeutet weniger Wissen“. Es stellt sich tatsächlich die Frage, ob wir nicht mit einem gigantischen Aufwand eine vorwissenschaftliche Tradition aufleben lassen, bei der Medizinmänner und Kräuterfrauen auch nur verständnisfrei Muster angewendet haben: Dieses Kraut scheint bei dieser Krankheit zu wirken. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Die digitale Technik ist an vielen Stellen so segensreich, dass eine moderne Medizin ohne sie nicht vorstellbar ist. Dennoch braucht es den analogen Menschen, der erkennt, wann „mehr“ letztlich „weniger“ bedeutet. Prof. Dr. Christoph Benz Präsident der Bundeszahnärztekammer Digitale Paradoxien 6 | LEITARTIKEL Foto: Georg Johannes Lopata/axentis.de
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