ZAHNMEDIZIN | 63 Die Jahre zwischen 1933 und 1945 (und auch noch später) waren auch für die deutsche Parodontologie „dunkle Jahre“. Es kam in den Jahren nach 1933 zu einem regelrechten Exodus vor allem jüdischer Kolleginnen und Kollegen, die ihre Stellungen in Universitäten und Instituten verloren. Namhafte Forscher haben Deutschland verlassen, um dem Regime und den auch für die Wissenschaft sehr harten Verhältnissen zu entkommen. So kam es zu einem – wie man heute sagt – „brain drain“: Durch die Emigration verlor die deutsche Parodontologie viele ihrer wichtigen Protagonisten – mit Auswirkungen auf die Forschung und das internationale Ansehen. Erst in der Zeit ab den späten 1980er Jahren begann sich dieser Zustand zu verbessern. Zunächst existierten im geteilten Deutschland noch zwei getrennte Fachgesellschaften für Parodontologie. Die Wiedervereinigung Deutschlands brachte schließlich den Zusammenschluss der Fachgesellschaften und der Ausbau der internationalen Kooperation mit der EFP sorgte für den Beginn einer neuen Ära. Heute gehört die Deutsche Gesellschaft für Parodontologie zu den größten Fachgesellschaften innerhalb der EFP. Seit Robert Koch gelten Bakterien als Auslöser von Krankheiten, so auch seinerzeit bei der Parodontose. Die begriffliche Verschiebung zur „Parodontitis“ zeigte gleichzeitig einen Erkenntnisfortschritt an: Parodontitis wurde nicht mehr als Infektionskrankheit, sondern als inflammatorischer Prozess begriffen … …die begriffliche Anpassung war Ausdruck einer grundlegenden Änderung im Verständnis der Erkrankung. Dazu zählt nicht nur der methodische beziehungsweise technische Fortschritt im Hinblick auf die Mikrobiologie, sondern im Besonderen auch hinsichtlich der Immunologie. Es wurde deutlich, dass Parodontitis eine komplexe Entzündungserkrankung des Menschen und nicht des Zahns ist. Im Speziellen bedeutet das, dass die Zusammenhänge zwischen mikrobiellem Angriff und der Körperbarriere wesentlich tiefer verstanden wurden. Bis heute spiegelt diese gegenseitige Beeinflussung das wissenschaftliche Interesse wider. Die Funktionsweise unseres Immunsystems spielt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle, denn in Abhängigkeit von der individuellen immunologischen Kompetenz kann die Reaktion auf die mikrobielle Umwelt – und hier im speziellen auf den sich zur Dysbiose entwickelnden Biofilm auf der Zahnoberfläche – verschieden stark ausfallen. Grundsätzlich wird eine angemessene von einer unangemessenen Immunantwort unterschieden. Die Art und Weise der Reaktion des angeilborenen und adaptiven Immunsystems wird durch zahlreiche Einflussfaktoren bestimmt. Hierzu gehören neben grundlegenden genetischen Risikofaktoren (inklusive Syndromerkrankungen) vor allem das Rauchen (beziehungsweise der Tabakkonsum in jeder Form) und Diabetes mellitus, sofern nicht gut eingestellt. Vor allem letzterer Aspekt hat dazu beigetragen, dass sich das Verständnis bezüglich der Parodontitis nicht nur innerhalb der Zahnmedizin, sondern auch in entsprechenden Fachbereichen der Medizin maßgeblich verändert hat. In der Mikrobiologie geraten zunehmend Phagen, also auf spezifische Bakterienarten fokussierte Viren, in den Blick der Wissenschaft. Phagen oder auch künstliche Phagenproteine könnten eines Tages in der Lage sein, Bakterien des roten Komplexes gezielt aus dem oralen Mikrobiom zu entfernen. Ist das eine realistische Zukunftsvision? Aufgrund der wissenschaftlichen Daten, auch aus der Medizin, ist das sicher ein Teil einer realistischen Zukunftsvision, jedoch nicht unbedingt in unmittelbarer Zukunft, wenn es um die umfassende Anwendung im Rahmen der Parodontitistherapie geht. In den letzten Jahren ist es uns mithilfe neuer Technologien gelungen, einen wesentlich tieferen Einblick in die orale Mikrobiologie zu bekommen. Hierzu gehört zum einen die Entschlüsselung des oralen Mikrobioms im Jahre 2010, die zeigte, dass wir es mit 1.179 unterschiedlichen Taxa zu tun haben, von denen gerade mal circa 24 Prozent namentlich bekannt sind. Zum Zweiten ist in den vergangenen Jahren das Wissen hinsichtlich der tatsächlichen Entwicklung des Biofilms erheblich angewachsen. Die Einführung der Begriffe „symbiotischer Biofilm“ und „dysbiotischer Biofilm“ sind Resultate dieses Forschungsfortschritts. Zusammengefasst erlauben diese neuen Erkenntnisse einen tiefen Einblick in die Mikrobiologie, werfen jedoch mindestens ebenso viele neue Fragen auf. Vor diesem Hintergrund ist die Identifikation des mikrobiologischen Ziels der Phagen für eine solcher Therapie entscheidend. Das heißt,es stellt sich die Frage, welche Bakterien sind die pathogenen „Drahtzieher“, welche Bakterien sind für die Ausbildung des dysbiotischen Biofilms verantwortlich? Mit der Antwort werden wir therapeutische Ansätze mit Phagen und neue Wege in Prävention und Therapie der Parodontitis entwickeln können. Von den Anfängen vor 100 Jahren bis in die heutige Zeit hatten Parodontologen immer auch die systemischen Implikationen parodontaler Erkrankungen im Blick. Insofern hat man das moderne Verständnis der Zahnmedizin als orale Medizin bereits vorweggenommen. Die Jubiläumstagung hat mit Ihrer Überschrift „Schnittstellen“ genau die Querverbindungen in die Facharztdisziplinen thematisiert. Wo stehen wir heute in der interdisziplinären Vernetzung der Parodontologie? Die Vernetzung von Medizin und Zahnmedizin ist seit jeher das zentrale Thema der Parodontologie und damit auch der DG PARO. So lag es nahe, die diesjährige Jahrestagung so zu konzipieren, dass die Schnittstellen der Parodontologie mit Medizin und Zahnmedizin herausgestellt werden. Im Rahmen des Hauptprogramms werden insgesamt sieben Schnittstellen in sieben Sessions präsentiert und diskutiert. Dazu gehören die Schnittstellen zwischen Parodontologie und Allgemeinmedizin, Alter, Regeneration, Endodontologie, Kieferorthopädie, Implantologie sowie zervikalen Läsionen. Diese unterschiedlichen Themen werden von international ausgewiezm114 Nr. 17, 01.09.2024, (1425) Prof. Dr. Henrik Dommisch ist seit dem 15. September 2022 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Parodontologie (DG Paro). Foto: Gesine Born
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