66 | GESELLSCHAFT Die rituelle Bearbeitung (Feilung oder Entfernung) von Zähnen war noch im 19. Jahrhundert auf fast allen Kontinenten bei zahlreichen Ethnien verbreitet (Abbildung 2): im Amazonasgebiet, in Zentralafrika und in Südostasien (Indonesien, Philippinen, Taiwan, Thailand, Vietnam). Das Hauptverbreitungsgebiet scheint demnach jeweils etwa 20 Grad nördlich beziehungsweise südlich des Äquators zu liegen. Aber auch noch heute wird die Feilung der Schneide- und der Eckzähne des Oberkiefers auf der Insel Bali von den dort wohnenden Angehörigen des balinesischen Hinduismus (agama tirtha = Religion des heiligen Wassers) regelmäßig durchgeführt. Der Autor konnte in den vergangenen Jahren an mehreren dieser religiösen Zeremonien auf Bali teilnehmen. Dargestellt wird die Zeremonie bei einer angesehenen Brahmanenfamilie (oberste Kaste) im Regierungsbezirk Bangli auf Bali. Auf Bali werden den Jugendlichen beiderlei Geschlechts nach Erreichen der Pubertät und vor der Eheschließung die Schneidekanten der Schneide- und der Eckzähne im Oberkiefer abgeschlagen beziehungsweise abgefeilt. Diese Prozedur wird in der balinesischen Hochsprache (Basa Bali alus) der beiden oberen Kasten „mepandes“ genannt. In der Umgangssprache der unteren Kasten ist der Ausdruck „matatah“ (abgeleitet vom Verb natah = meißeln) oder „masangih“ (abgeleitet vomVerbsangih= feilen) üblich. Da die Zeremonie sehr aufwendig und kostspielig ist, werden oft mehrere Jugendliche beiderlei Geschlechts anlässlich großer Familienfeiern gemeinsam versorgt. Die hier wiedergegebenen Bilder (Abbildungen 1 und 3) stammen von Eine Hohepriesterin bearbeitet die sechs oberen Frontzähne mit einem Hämmerchen und einem kleinen Meißel. Foto: Michael Sachs zm114 Nr. 17, 01.09.2024, (1428) ZÄHNE & KULTUR Rituelle Zahnfeilungen gegen ein lasterhaftes Leben Michael Sachs Rund um die Welt existieren unterschiedlichste Sitten und Gebräuche, in deren Rahmen Zähne rituell und ohne medizinische Notwendigkeit bearbeitet werden. Dabei reicht das Spektrum von kleinen Schmuckmodifikationen bis hin zu hochinvasiven Verstümmelungen oder gar Extraktionen. Auf der Insel Bali dienen die Zahnfeilungen bei Jugendlichen unter anderem als Mittel gegen die nach dem dortigen Glauben sechs Hauptlaster des Menschen.
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