GESELLSCHAFT | 67 einer nächtlichen Zahnfeilzeremonie wenige Stunden vor der gemeinsamen Weihe (mediksa) eines HohepriesterEhepaares (Pedanda Shiva). Nach Mitternacht, zwei Tage nach Neumond, am Tag der Priesterweihe werden die Jugendlichen und jungen Erwachsenen zunächst in kostbare, gelb- bis goldfarbene Gewänder eingekleidet. Anschließend werden sie von älteren Freunden, die die Zahnfeilung schon hinter sich haben müssen, aus dem Hause getragen und zum Ort der Zahnfeilung gebracht: ein auf vier Pfeilern ruhender, an den Seiten offener Pavillon im Hofe des Gehöfts (bei Brahmanen griya genannt). Nach Gebeten sowie der Bereitstellung und rituellen Reinigung der zahlreichen, aufwendig hergestellten Opfergaben aus Pflanzenbestandteilen (Blüten) und jungen gelben Kokosnüssen (bungkaka Nyuh gading) durch Heiliges Wasser (tirtha) erscheint die die Zahnfeilung durchführende Person. In diesem Fall wird das Ritual durch eine Hohepriesterin (pedanda istri) der Familie geleitet. Mit Hämmerchen, Meißel und Metallfeile Die Priesterin betet zunächst und schreibt die beiden heiligen Silben (ang – ah) auf die beiden Eckzähne. Diese Silben sind das balinesische Symbol für die Polarität der Welt: schwarz-weiß, Feuer-Wasser; gut-böse, Sonne-Mond, Mann-Frau. Anschließend bearbeitet die Hohepriesterin die sechs Oberkieferzähne mit einem Hämmerchen und einem kleinen Meißel (Abbildung 1). Abschließend feilt ein älterer Mann der Familie die Schneide- und die Eckzähne mit einer feinen Metallfeile auf gleiche Höhe (Abbildung 3). Dabei hält ein kleiner Holzwürfel*, der zwischen die rechten Molaren von Oberund Unterkiefer gesteckt wird, den Mund offen. Schmerzmittel werden bei diesem Vorgang nicht verabreicht. Anschließend wird der Mund der Betroffenen mit dem Fruchtwasser einer jungen, gelben Kokosnuss ausgespült. Die Kokosnuss wird dann mit dem Spülwasser im Hof vergraben. Was ist der religiöse Sinn dieser Zeremonie? Die balinesischen Hindus glauben, dass eine menschliche Seele nur dann in einem Körper (meist eines Angehörigen derselben Familie) wiedergeboren werden kann, wenn bei diesem zu Lebzeiten eine Zahnfeilung vorgenommen worden war. Außerdem wird durch die Zahnfeilung die Ähnlichkeit der beiden Eckzähne mit dem entsprechenden Hundezahn beseitigt. Auch unseren Vorfahren ist diese Ähnlichkeit aufgefallen, sie haben die beiden Eckzähne deshalb als „Dens caninus“ bezeichnet. Darüber hinaus gelten in Bali die oberen Eck- und Schneidezähne als Sitz der sechs Hauptlaster (sad-ripu) des Menschen. Die entsprechenden unteren Zähne werden dagegen in ihrer ursprünglichen Form belassen, wohl um das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse nicht zu stören: Nach der balinesischen Philosophie besiegt das Gute nie vollständig das Böse, denn beide gehören zum Wesen der polaren Welt. Die sechs Hauptlaster (Hauptfeinde) des Menschen sind nach balinesischer Definition: krodha (Zorn), kama (Wollust), loba (Habgier), madha (Unbeherrschtheit), moha (Dummheit) und matsarya (Eifersucht). Diese Hauptlaster entsprechen weitgehend den sieben christlichen Todsünden: Hochmut (saligia), Habgier (avaritia), Wollust (luxuria), Zorn (ira), Völlerei (gula), Neid (invidia) und Trägheit (acedia). n * Der Holzwürfel wird aus dem sogenannten DapdapStrauch hergestellt. Diese Pflanze wird in Bali häufig für religiöse Zeremonien verwendet [= Erythrina variegata L. (Leguminosaceae) = Coral tree]. zm114 Nr. 17, 01.09.2024, (1429) Abb. 2: Unterschiedliche Typen von Zahnfeilungen bei verschiedenen indigenen Gruppen in der seinerzeitigen Kolonie Niederländisch-Ostindien (heute Indonesien). Foto: [nach Uhle 1886, p.9] Abb. 3: Ein Mann aus der Familie feilt die Schneide- und die Eckzähne auf die gleiche Höhe. Abb. 4: Zustand nach Zahnfeilung: Die oberen Schneide- und Eckzähne sind beidseits auf gleiche Höhe gefeilt (Typ Uhle 2, Abb. 2). Fotos: Michael Sachs Prof. Dr. med. Michael Sachs Dr. Senckenbergisches Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Goethe-Universität Frankfurt am Main Paul-Ehrlich-Str. 20, 60590 Frankfurt am Main sachs@em.uni-frankfurt.de Foto: privat
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