Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 18

TITEL | 39 die Hälfte davon erhielt ein Placebo (NaCl-Lösung). Das Risiko für das Auftreten von systemischen, also wirklich beeinträchtigenden Nebenwirkungen lag in der Placebo-Gruppe bei 72 bis 85 Prozent, bezogen auf die tatsächlich Geimpften. Dies ist ein klassisches Beispiel für den Nocebo-Effekt – vorwiegend hervorgerufen durch Medienberichte. Und welche Rolle spielt dagegen der Placebo-Effekt beziehungsweise wie wirkt sich die Ankündigung einer (zahnmedizinischen) Behandlung auf die Wirksamkeit aus? Der Placebo-Effekt spielt eine ganz erhebliche Rolle: Medikamente, aber auch Operationen und alle anderen medizinischen Interventionen entfalten ihre volle Wirkung erst durch den Placebo-Effekt. Er macht 20 bis 80 Prozent der Wirkung aus. Das Ausmaß des PlaceboEffekts ist abhängig von den Erwartungen, die wiederum an die Formulierung der Ankündigung geknüpft sind. Damit kommt dem Zahnarzt viel Gestaltungspotenzial, aber auch Verantwortung zu. Es ist wichtig, jede Behandlung beziehungsweise Medikamentengabe unbedingt anzukündigen. Ein konkretes Beispiel: Was glauben Sie, wie viel Prozent der Wirkung einer Bandscheibenoperation (Rückerlangung von Schmerzfreiheit und Mobilität) Sie mit einer sogenannten Scheinoperation erreichen – also lediglich einem Hautschnitt in Narkose? Es sind 78 Prozent. Solche Studien wurden in der Zahnmedizin zwar noch nicht durchgeführt. Aus den vielen anderen Bereichen, in denen der Placebo-Effekt hinreichend untersucht wurde, schließe ich aber, dass er in der Zahnheilkunde auftritt und genutzt werden MUSS. Wenn man den Placebo-Effekt nicht zum Medikament hinzugibt, dann ist das in meinen Augen ein Kunstfehler. Ich erkläre das anhand eines Beispiels: Wenn ich in eine Infusion Morphin gebe und es dem Patienten nicht mitteile, dann hat es nur die halbe Wirkung. Das käme einer Unterdosierung gleich – und die ist ein Kunstfehler. Um bei der Zahnmedizin zu bleiben: Eine medikamentöse Einlage im Wurzelkanal sollte dem Patienten mitgeteilt werden, um auch hier den Placebo-Effekt vollumfänglich zu nutzen. Die Behandlung selbst hat einen Effekt, aber gewöhnlich muss der Placebo-Effekt noch obendrauf kommen. Das bedeutet, man sollte immer erklären, was der Patient von dem Eingriff erwarten darf. Das ist wichtig, denn ein Großteil von Krankheit und von Heilung liegt beim Patienten. Das heißt, ich muss ihn mit ins Boot nehmen, ich brauche seine positiven Erwartungen und sollte die negativen Erwartungen ausschalten. Mit diesem Wissen um die Wirkungsmacht des Placebo- beziehungsweise Nocebo-Effekts kann ich die Kommunikation unterschiedlich gestalten. Und genau hier liegt ein immenses Potenzial – aber genauso eine Verantwortung. Man kann dem Patienten unangekündigt eine Spritze geben mit den Worten „Öffnen Sie bitte den Mund“ – das ist das schlimmste Szenario. Man könnte sagen: „Öffnen Sie bitte den Mund, ich gebe Ihnen eine Spritze.“ Dann haben Sie angekündigt, was Sie vorhaben, aber nichts Positives genannt. Man könnte sagen „Ich gebe Ihnen eine lokale Betäubung“ – naja. Oder man ergänzt „die sehr schnell ihre volle Wirkung entfaltet und Sie nichts mehr spüren lässt, damit wird die Behandlung für Sie viel angenehmer“. Dieser Hinweis hegt Erwartungen an das Medikament und nur so kann der Placebo-Effekt vollumfänglich genutzt werden. Können negative Erwartungen eines Patienten tatsächlich zu einem schlechteren Behandlungsergebnis führen beziehungsweise Schmerzen oder Angst vor einem zahnärztlichen Eingriff verstärken? Ja, indem man falsch über ein Risiko oder eine Nebenwirkung spricht, kann man diese und jegliche Symptome auslösen oder verstärken. Die negative Erwartung begünstigt Schmerzen (Nocebo-Effekt) und löst Angst davor aus. Sowohl negative Erwartungen als auch Angst beeinträchtigen den Behandlungserfolg und die Gesundheit (Outcome) sowie die Behandlungswilligkeit und die Compliance. Sie können auch dazu führen, dass Patienten wichtige Behandlungen verzögern oder gar nicht durchführen lassen. Klassischerweise sind das die Patienten, die seit zehn Jahren nicht beim Zahnarzt waren und dann mit einem stark sanierungsbedürftigen Zahnstatus und Schmerzen in die Praxis kommen. Eine fehlende Compliance kann beispielsweise auch dazu führen, dass empfohlene Maßnahmen, etwa die Einnahme von Antibiotika nach einem zahnärztlichen Eingriff, nicht eingehalten werden – aus Angst vor Nebenwirkungen. Bedeutet das, dass jedes Aufklärungsgespräch den Nocebo-Effekt auslöst? Das Aufklärungsgespräch, insbesondere das Ansprechen von Risiken, ist eine Hauptquelle von Nocebo-Effekten. Es kann oft zu Nocebo-Effekten führen – muss es aber nicht. Wie klärt man Patienten über mögliche Behandlungsrisiken auf, ohne den NoceboEffekt zu verstärken? Die Aufklärung ist unverzichtbar. Es geht nicht um das Ob, sondern um das Wie. Kurz ein paar grundsätzliche Hinweise zur Aufklärung: Diese muss immer mündlich stattfinden und individuell gestaltet werden. Der Aufklärungsbogen dient eigentlich nur zur Dokumentation. Das Ganze kostet natürlich Zeit. Dabei sollten allerdings zwei Aspekzm114 Nr. 18, 16.09.2024, (1505) Prof. Dr. Dr. Ernil Hansen war Oberarzt der Klinik für Anästhesiologie am Universitätsklinikum Regensburg. Er hat lange Vorlesungen für Zahnmedizin- und Medizinstudenten, Vorträge und Fortbildungen zu den Themen „Therapeutische Kommunikation“ und „Hypnose“ gehalten. Schwerpunkte seiner Forschungen und Veröffentlichungen sind darüber hinaus der Placebo- beziehungsweise NoceboEffekt, Suggestionen und die medizinische Aufklärung. Er begleitet weiterhin ängstliche Patienten in der Praxis OralchirurgieRegensburg-Hansen. Foto: Universitätsklinikum Regensburg

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