Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 20

ZAHNMEDIZIN | 81 bei Säuglingen unter fünf Monaten, sowie patterned bruising). Das bedeutet, dass alle Blutergüsse im Bereich des Rumpfes, der Ohren, des Nackens, der Frenula, der Kieferwinkel, an den Wangen, den Augenlidern und der Bindehaut mit hoher Wahrscheinlichkeit zugefügt wurden und nur selten unfallbedingt sind. Unterschiedliche Heilungsstadien sind ein Warnsignal Bei einem generellen Missbrauchsverdacht sollte explizit auf orale Traumata untersucht werden. Auch das Risiko für Karies, Gingivitis und andere orale Gesundheitsprobleme ist bei misshandelten Kindern höher. Wenn bei Kindern unter vier Jahren Verletzungen im orofazialen Bereich festgestellt werden – insbesondere an den Wangen, am Ohr, am Kiefer und am Bändchen – kann das ein Vorbote für spätere, schwerere Misshandlungen sein [Pierce et al., 2021]. Körperliche Misshandlungen können als „Quetschungen, Verbrennungen oder Risswunden an Zunge, Lippen, Wangenschleimhaut, Gaumen (weich und hart), Zahnfleisch, Alveolarschleimhaut oder Bändchen, gebrochenen, verschobenen oder abgeschlagenen Zähnen oder Brüchen von Gesichtsknochen und Kiefer“ sichtbar werden [Tate et al., 2024]. Am häufigsten bei Misshandlungen sind Verletzungen im Bereich der Lippen, gefolgt von der Mundschleimhaut, den Zähnen und der Zunge. Ob die Verletzungen beabsichtigt oder im Rahmen eines Unfalls entstanden sind, könne anhand der Schlüssigkeit der Anamnese beurteilt werden: Dabei sollten die Merkmale der Verletzungen mit dem Verletzungsmechanismus und dem Zeitpunkt übereinstimmen – auch der Entwicklungsstand des Kindes sollte berücksichtigt werden, lautet die Empfehlung der Autoren. Hellhörig sollten Zahnärzte und Pädiater werden, wenn verschiedene Verletzungen in unterschiedlichen Heilungsstadien vorliegen, da dies ein Zeichen für wiederholte Misshandlung sein kann. Sexueller Missbrauch Zeichen einer sexuell übertragbaren Infektion (STI) können sich auch in der Mundhöhle manifestieren. Sollten Anzeichen vorliegen, soll diesen nachgegangen beziehungsweise eine Untersuchung auf STIs eingeleitet werden. Medizinischer Kindesmissbrauch Das Münchhausen-by-proxy-Syndrom „ist eine Form der Kindesmisshandlung, bei der eine Betreuungsperson ein Kind unnötiger und möglicherweise schädlicher medizinischer Behandlung aussetzt, weil sie eine Krankheit oder einen medizinischen Zustand übertrieben, verfälscht oder vorgetäuscht hat [Roesler et al., 2008]“ [Tate et al., 2024]. Die Folge sind unnötige Medikamentengaben, medizinische Behandlungen, Tests und Operationen. Die Symptome sind vielfältig, können stark variieren und sich auch oral manifestieren. Die Autoren berichten über einen Fall, in dem ein Kind gezwungen wurde, giftige Reinigungsmittel zu sich zu nehmen, die Schleimhautblutungen und Ulzerationen hervorriefen. Bisswunden Akute oder verheilte Bisswunden auf der Haut können hinweisgebend für einen Missbrauch sein. Die Bissverletzungen können zwar kaum zur Identifizierung potenzieller Täter herangezogen werden, weil sie häufig verzerrt sind. Bei einem intercaninen Abstand von etwa drei Zentimetern kann man aber davon ausgehen, dass es sich um den Biss eines Erwachsenen handelt. Mobbing Im Bericht der AAP machen die Autoren auch auf das Thema Mobbing aufmerksam. Kinder mit dentalen oder orofazialen Anomalien sind einem erhöhten Risiko für Mobbing ausgesetzt. Umgekehrt weisen gemobbte Personen oft eine schlechtere Mundhygiene auf. Menschenhandel Von Menschenhandel – also Sexualhandel im Sinne kommerzieller sexueller Handlungen, die durch Gewalt, Betrug oder Zwang herbeigeführt werden – sind Kinder mit einem Durchschnittsalter von zwölf Jahren am häufigsten betroffen. Ein erhöhtes Risiko für Sexualhandel besteht für Kinder in Pflegefamilien sowie für obdachlose, von zu Hause weggelaufene oder in Strafanstalten inhaftierte Jugendliche. Neben vielfältigen psychischen und physischen Verletzungen und Unter- oder Fehlernährung sind dentale Probleme bei Betroffenen sehr häufig. Studiendaten haben gezeigt, dass über 25 Prozent der vom Sexualhandel Betroffenen eine zahnärztliche Praxis aufsuchten, was eine Chance zur Identifizierung dieser Personen bietet [Chisolm-Straker et al., 2016]. Dental neglect Die American Academy of Pediatric Dentistry definiert dental neglect als „vorsätzliches Versäumnis der Eltern oder Erziehungsberechtigten, trotz eines angemessenen Zugangs zu medizinischer Versorgung eine Behandlung zu suchen und durchzuführen, die notwendig ist, um ein Niveau der Mundgesundheit zu gewährleisten, das für eine angemessene Funktion und Freiheit von Schmerzen und Infektionen unerlässlich ist“ [American Academy of Pediatric Dentistry]. Dental neglect ist auch die häufigste Art von Vernachlässigung, die Zahnärztinnen und Zahnärzte beobachten – mit weitreichenden Folgen für die Kinder. Wichtig ist zu unterscheiden, ob betreuende Personen nicht über ausreichende Kenntnisse verfügen oder ob sie vorsätzlich Behandlungen versäumen beziehungsweise die Mundhygiene des Kindes vernachlässigen. Deshalb empfehlen die Autoren, einen Fall von dental neglect an die zuständige Kinderschutzbehörde zu melden, wenn die Eltern die notwendige Behandlung der Zahnerkrankung eines Kindes nicht in Anspruch nehmen, nachdem sie über das „Ausmaß des Zustands des Kindes, die erforderliche Behandlung und die Möglichkeiten des Zugangs zu dieser Behandlung“ informiert wurden [Tate et al., 2024]. nl Die AAP-Empfehlungen: Tate AR, Fisher-Owens SA, Spiller L, Muhlbauer J, Lukefahr JL; SECTION ON ORAL HEALTH; COUNCIL ON CHILD ABUSE AND NEGLECT. Oral and Dental Aspects of Child Abuse and Neglect: Clinical Report. Pediatrics. 2024 Sep 1;154(3):e2024068024. doi: 10.1542/peds.2024-068024. PMID: 39155729. zm114 Nr. 20, 16.10.2024, (1747) GENAU HINSEHEN Mehr zum Thema finden Sie hier: „Ist frühkindliche Karies gleich Kindeswohlgefährdung?”

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