54 | GESELLSCHAFT EINE FLUCHT KURZ VOR DEM MAUERFALL „Also haben wir uns ins Auto gesetzt und sind nach Prag gefahren!“ Kurz bevor die Mauer fiel, flüchtete Dr. Rolf Mahlke mit Frau und kleinem Sohn über Prag nach Westdeutschland. In ihrer Berufsausübung fühlte sich das Zahnärztepaar ausgebremst und sah auch keine Entwicklungschancen in der Zahnmedizin. Als das Kind wegen der hohen Luftverschmutzung dauernd krank war, packten sie ihre Sachen. Mahlke (64) ist heute immer noch als Zahnarzt in der Gemeinschaftspraxis mit Ehefrau Marion und Sohn Christoph in Wittingen aktiv. Die niedersächsische Kleinstadt ist seit 1990 die neue Heimat der Familie. Vor der Flucht waren die Eheleute in einer Poliklinik in Stendal tätig. Der kräftige Mann mit der freundlichen Stimme ist abseits der Praxis Autoliebhaber, Verlagsgründer und Autor. Mit seiner Fluchtgeschichte sowie in der Doppelrolle als Zahnmediziner und Auto-Historiker ist er vor allem Zeitzeuge der damaligenDDR. Wer dort das Abitur machen und dann studieren wollte, der durfte sich bekanntlich nicht systemkritisch äußern. „Wir sind oft gefragt worden, warum wir abgehauen sind. Viele dachten und denken immer noch, wir hatten dort alles, was wir brauchten, haben doch umsonst studiert. Ich antworte dann: 'Ja, stimmt.' Doch es gab Ende der 80erJahre zu viele Zahnärzte in der DDR. Das war die Folge einer Reaktion auf einen Mangel in den 1970ern. Turboartig wurde ausgebildet. Zu dieser Zeit konnte eigentlich jeder, der wollte, einen Studienplatz bekommen“, berichtet Mahlke. Nur in der Urlaubszeit war Platz zum Behandeln Nach abgeschlossenem Studium wurden Zahnärzte dann von einer staatlichen Kommission in einen Ort gesendet, um dort mindestens drei Jahre zu bleiben. „Für uns ging es 'gelenkt' nach Osterburg und in die Kreis-Poliklinik Stendal – da waren meine Frau und ich 27 Jahre alt. Dort waren aber auch zu viele Zahnärzte. In dieser Zeit gab es tatsächlich mehr Behandelnde als Arbeitsplätze.“ Konkret fanden die beiden regelmäßig kein freies Behandlungszimmer in der Klinik. Wenn Urlaubszeit war, freuten sie sich fast, dass sie endlich Platz und Gelegenheit zum Behandeln hatten. Der Zahnarzt erinnert sich auch an das sogenannte Markensystem, eine Art Budget, mit dem die sehr knappen zahntechnischen Kapazitäten verteilt wurden. So gab es beispielsweise eine Marke, die für eine Krone, Teil- oder Vollprothese eingelöst werden konnte. „Mehr als acht Marken pro Monat und pro Behandler erinnere ich nicht“, erzählt Mahlke. „Endodontische Instrumente wurden mir im gesamten Jahr 1988 nicht zugeteilt, diamantierte Schleifkörper personenbezogen und je nach Devisenvorräten – weil West-Import. Die hat man in 'Schatzkästchen' sicherheitshalber nach Dienstschluss nach Hause in die eigene Wohnung mitgenommen.“ Dr. Rolf Mahlke (r.) neben seinem Sohn Christoph, mit seiner Frau Dr. Marion Mahlke (Mitte hinten) und seinem Team. Nächstes Jahr im Herbst feiert die Praxis 30-jähriges Jubiläum. Foto: Mahlke zm114 Nr. 23-24, 01.12.2024, (2024) Mahlke im Sommer bei einer Runde von Zeitzeugen zur Feier „35 Jahre Friedliche Revolution“ im Landtag Sachsen-Anhalt. Foto: ltlsa/stb
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