zm115 Nr. 01-02, 16.01.2025, (40) 42 | MEDIZIN menschlichen Körper betrage jedoch nur etwa fünf Stunden: „Solche Invitro-Testbedingungen sind demnach nicht mit den realen Expositionsbedingungen beim Menschen vergleichbar. Daher kann die Studie auch nicht vorhersagen, welche Auswirkungen der Konsum von Neotam tatsächlich auf das menschliche Darmmikrobiom hat.“ Wie das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) in einer Stellungnahme im Februar 2023 schrieb bleibt aber nicht nur völlig offen, welche gesundheitlichen Auswirkungen Neotam 15 Jahre nach seiner Zulassung in der EU hat, sondern auch, welche gesundheitlichen Effekte die kombinierte Aufnahme verschiedener Süßungsmittel hat. Ob diese sich im Vergleich zum Einzelstoff in ihrer Wirkung gegenseitig verstärken, abschwächen oder einander nicht beeinflussen, könne derzeit noch nicht geklärt werden. Und ob die beim Tiermodell beobachteten Effekte auf den Menschen übertragbar sind, lasse sich aufgrund der limitierten Datenlage zu Kombinationswirkungen von Süßungsmitteln derzeit auch nicht beurteilen. Die Behörden sehen weiteren Forschungsbedarf Bereits 2019 hatte das BfR drauf hingewiesen, dass für die fünf am häufigsten eingesetzten Süßungsmittel – Sucralose, Acesulfam K, Saccharin, Aspartam und Cyclamat – unklar sei, ob ein vermehrter Verzehr das Risiko für Übergewicht und Stoffwechselerkrankungen vor allem bei sensiblen Gruppen wie Schwangeren oder Kindern erhöht. Auch der wissenschaftliche Dienst des Bundestags fasste im Februar 2023 die Studienlage zu den gesundheitlichen Auswirkungen von Süßungsmitteln zusammen: „Obwohl einige Studien belegen, dass Süßstoffe sichere und geeignete Ersatzstoffe für Zucker seien, zeigen andere Untersuchungen auf, dass auch künstliche Süßungsmittel ein Risiko für krankhafte Veränderungen wie oxidativen Stress, Erkrankungen des Nervensystems oder Veränderungen des gastro-intestinalen Mikrobioms bergen könnten.“ INTERVIEW MIT PROF. JOHAN P. WÖLBER „Von geringen Dosen in Zahnpasta und Hustenbonbons geht keine Gefahr aus“ Herr Prof. Wölber, Süßstoffe gelten als Schlüssel zur Zuckerreduktion oder -vermeidung und damit auch zu einer zahngesunden Ernährung. Nun sät eine neue Studie Zweifel an der gesundheitlichen Unbedenklichkeit von Neotam, das in Limonaden, Bonbons und Kaugummis Zucker ersetzt. Wie bewerten Sie die Situation? Prof. Johan Wölber: Aus meiner Sicht müssen wir immer unsere evolutionäre Adaptation mit beachten: Wir haben einen genetischen Bauplan von vor 300.000 Jahren und sind mit einem noch älteren Mikrobiom besiedelt. In puncto „Süß“ sind wir natürlicherweise ausgelegt für Obstkonsum (die Süßigkeit der Natur) – und das auch nur begrenzt und wahrscheinlich saisonal. Beim Obst sind Zucker immer von Ballaststoffen und Mikronährstoffen begleitet. Für alles, was darüber hinaus und andersartig konsumiert wird, muss mit unerwünschten Nebenwirkungen gerechnet werden. Dementsprechend sind wir Menschen (und unsere Bakterien) weder für 100 g Zucker pro Tag – der derzeitige Durchschnittswert – noch für dieselbe Menge an Süßstoffen ausgelegt. In diesem Sinne sind Süßstoffe für mich höchstens hilfreich, um sich vom Zucker zu entwöhnen, nicht um ihn 1:1 zu ersetzen. Das Ziel sollte immer eine Vermeidung oder der Weg dahin sein. Untersuchungen bescheinigen Zuckeralkoholen wie Xylitol, Erythritol und Sorbitol positive Effekte auf die Mundgesundheit, unter anderem bei Gingivitis und Parodontitis. Gleichzeitig sind sie mit Risiken für Laxation, aber auch für kardiovaskuläre Ereignisse assoziiert. Wie sieht eine ausgewogene Risikoabwägung Ihrer Einschätzung nach aus? Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung hat es in den aktuellen Empfehlungen gut formuliert: „Süßes besser stehen lassen“. Die positiven Wirkungen der genannten Süßstoffe auf die orale Gesundheit kommen vor allem durch die Zuckervermeidung zustande. Von daher: Wenn ich Zucker oder Süßstoff vermeide, habe ich sowohl die gesundheitlichen Vorteile als auch die ausbleibenden Nebenwirkungen. Für den Alltagsgebrauch würde ich formulieren, dass sowohl der seltene Konsum von geringen Mengen an Zucker als auch an Süßstoffen gesundheitlich keine Rolle spielt. Wenn ich diese Stoffe jedoch gewohnheitsProf. Dr. med. dent. Johan P. Wölber leitet an der Dresdner Carl Gustav CarusUniversität den Bereich Parodontologie und ist Ernährungsmediziner. Im Interview erklärt er, warum er keine Überraschungen bei der Risikoneubewertung durch die EU erwartet, was er Eltern rät und wie er die mit dem Zahnmännchen ausgezeichneten zuckerfreien Produkte bewertet. Foto: privat
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