Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 1

50 | ZAHNMEDIZIN Nach dem Ausschluss eines SchädelHirn-Traumas erfolgt eine ausführliche Anamnese. Dabei sollte besonderes Augenmerk auf den genauen Unfallmechanismus gelegt werden. Anschließend folgt die klinische Untersuchung, bei der die faziale Sensibilität (Nervus trigeminus), die Mimik (Nervus facialis) und die Palpation der knöchernen Strukturen überprüft werden. Druckdolenz und/oder Knochenstufen können dabei auf die Schädigung bestimmter anatomischer Strukturen hinweisen. Ein Hautemphysem kann sich in der Regel als hörbares Knistern ertasten lassen [Maunder et al., 1984]. Wichtig ist die Betrachtung der Befunde im Seitenvergleich. Zur Diagnostik von orbitalen Frakturen gehört außerdem eine orientierende ophthalmologische Untersuchung des Visus und der Augenmotilität. Zum Beispiel kann eine Inkarzeration des Musculus rectus medialis durch eine Fraktur der medialen Orbitawand zu horizontalen Doppelbildern führen [Belli et al., 2009]. Unter den bildgebenden Verfahren gilt die Computertomografie als Goldstandard. Die Aufnahme in dünnen Schichten ermöglicht dabei die detailgetreue koronare, axiale und sagittale Rekonstruktion der knöchernen und weichgeweblichen Strukturen [Caranci et al., 2012]. Ferner bietet die Computertomografie die Möglichkeit der kontrastmittelgestützten Bildgebung zur Diagnostik von intrakraniellen Blutungen. Die in der Zahnmedizin gebräuchliche dentale Volumentomografie (DVT) stellt ebenfalls eine effektive Methode zur Frakturdiagnostik dar. Vorteile dieser Methode sind die bessere Verfügbarkeit, die geringere Strahlenbelastung und die niedrigeren Kosten [Ziegler et al., 2002; Zizelmann et al., 2007]. Zweidimensionale Aufnahmen wie das Orthopantomogramm (OPG) oder Nasennebenhöhlen-Aufnahmen (NNH) sind aufgrund der geringen Diagnoseraten in der Orbitatraumatologie mittlerweile zu vernachlässigen [Dodick et al., 1971; Davidson et al., 1975; Deichmüller und Welkoborsky, 2018; Karahisarlioglu, 2021]. Die Entscheidung zur chirurgischen Versorgung von Orbitafrakturen und deren Zeitpunkt hängt von verschiedenen Faktoren ab. Zu den absoluten Notfallindikationen zählen ein Retrobulbärhämatom, eine traumatische Optikusneuropathie (TON) und ein akuter Visusverlust, ebenso wie Orbitafrakturen, die mit einem persistierenden orbitokardialen Reflex, Übelkeit und Erbrechen einhergehen. In solchen Fällen ist eine sofortige Intervention erforderlich, um dauerhafte Schäden und eine mögliche Erblindung zu verhindern [S2e-Leitlinie, 2013; Soare et al., 2015; Kämmerer, 2019]. Unter einer frühen Rekonstruktion versteht man eine operative Versorgung innerhalb der ersten zwei Wochen nach dem traumatischen Ereignis. Indikationen hierfür sind unter anderem große Defekte, Diplopie, Muskelinkarzerationen und ein Enophtalmus größer als 2 mm [Burnstine, 2003]. Ausgeprägte orbitale Schwellungen erschweren oft die klinische Einschätzung sowie die Operationsbedingungen, daher ist ein Zuwarten von ein bis zwei Tagen präoperativ nicht unüblich. Primäres Ziel der Operation ist die Wiederherstellung der Funktionalität und der Ästhetik. Ein konservatives Vorgehen kann bei kleinen, nicht dislozierten Frakturen ohne klinische Symptomatik oder einem erhöhtem Narkoserisiko bei multimorbiden Patienten in Betracht gezogen werden [S2e-Leitlinie, 2013; Aldekhayel et al., 2014]. Typischerweise besteht die Therapie von Orbiafrakturen aus einer chirurgischen Reposition und Osteosynthese. Durch ihr Volumen bietet die Augenhöhle jedoch eine gute Ausgangssituation zur plastischen Rekonstruktion. Dafür steht eine Vielzahl an Biomaterialien – autogen, allogen, xenogen, alloplastisch – zur Auswahl, die abhängig von der Lokalisation und der Größe der Fraktur sowie von der klinischen Symptomatik genutzt werden [Wajih et al., 2011; S2e-Leitlinie, 2013]. Alloplastische resorbierbare Materialien wie zum Beispiel die Polydioxanon-Folie kommen im klinischen Alltag – aufgrund ihrer Formbarkeit und ihrer schnellen Verfügbarkeit – oft zum Einsatz. Sie bergen allerdings die Gefahr einer Fremdkörperreaktion sowie eines frühzeitigen Formverlusts [Kontio et al., 2005; Karahisarlioglu, 2021]. Nicht resorbierbare alloplastische Produkte wie Titan-Meshs oder patientenspezifische Implantate bieten hingegen mechanische Festigkeit, Biokompatibilität und Radioopazität – und eignen sich somit hervorragend zur detaillierten Rekonstruktion der Augenhöhle, besonders bei größeren Defekten [Gander et al., 2015; Karahisarlioglu, 2021]. Zur Rekonstruktion von medialen Orbitawandfrakturen existiert bis heute kein internationaler wissenschaftlicher Standard und die Indikationsstellung beruht meist auf einer Kombination der klinischen und der radiologischen zm115 Nr. 01-02, 16.01.2025, (48) ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden. DER BESONDERE FALL MIT CME Univ.-Prof. Dr. Dr. Peer W. Kämmerer ist langjähriger Autor und seit 2021 wissenschaftlicher Beirat der zm. In Zusammenarbeit mit der zm-Redaktion betreut er die Rubrik „Der besondere Fall mit CME“, in der wir bevorzugt das präsentieren, was über den berühmten „Tellerrand“ der alltäglichen Praxis hinausreicht. Interessierte Autorinnen und Autoren, die besondere Patientenfälle behandelt und gut dokumentiert haben, sind herzlich eingeladen, diese bei der Redaktion der zm einzureichen. Univ.-Prof. Dr. Dr. Peer W. Kämmerer, MA, FEBOMFS Leitender Oberarzt/ Stellvertr. Klinikdirektor Universitätsmedizin Mainz Foto: Kämmerer

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