Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 4

TITEL | 35 wie Sigmatismus (Lispeln) zur Folge haben kann [Kahl-Nieke, 2001]. Das Verhalten und die Unterkieferrücklage haben oft auch negative Auswirkungen auf die Kiefergelenke und -muskeln [Ganapathi et al., 2021]. Abbildung 2 zeigt, wie das Saugen oder Lutschen an Daumen oder Fingern Druck auf Weich- und Hartgewebe des orofazialen Komplexes ausüben kann. Die Folge ist eine verringerte Lebensqualität Zusätzlich zu den körperlichen Folgen geht mit BFRBDs allgemein häufig eine verringerte Lebensqualität einher. Auf der einen Seite hängt dies mit komorbiden psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Ängsten zusammen [Solley und Turner, 2018]. Auf der anderen Seite empfinden Betroffene meistens Scham aufgrund des Verhaltens und der sichtbaren körperlichen Folgen. Beispielsweise sind Schäden an den Nägeln, die durch Onychophagie entstehen, nur schwer zu kaschieren und können zur Vermeidung von körperlichen Berührungen bis hin zur Vermeidung von sozialen Kontakten allgemein führen. Die Relevanz für die zahnärztliche Praxis liegt in erster Linie in der Identifikation der körperlichen Symptome und in der Behandlung der Folgen. Etwa 90 Prozent der betroffenen Personen suchen jedoch keine psychologische Hilfe auf, weil sie häufig nicht wissen, dass es sich um eine behandelbare Störung handelt und nicht um eine „schlechte Angewohnheit“ oder gar um „Willensschwäche“ [Erdogan et al., 2021]. Zudem schämen sich viele Betroffene für ihr Verhalten und sprechen nicht von sich aus in einer Untersuchung darüber. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für einen chronischen Krankheitsverlauf. Beim Erkennen der typischen Symptome sollte der Patient oder die Patientin behutsam darauf angesprochen werden. Klassifikation Die hier aufgeführten BFRBDs sind im Vergleich zu anderen Störungsbildern wie Trichotillomanie und Skin Picking deutlich weniger erforscht. Das hängt vermutlich mit den aktuellen Klassifikationssystemen zusammen. Keines der vier oben beschriebenen Störungsbilder wird im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM) oder in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO (ICD) als eigenständige Diagnose gelistet. In der ICD-10 fallen die Störungsbilder unter F63.8 „Sonstige abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle“. Als eigene Diagnose führt die ICD-10 von allen BFRBDs nur Trichotillomanie auf. Das chronische Kauen an der Mundschleimhaut wird auch als morsicatio buccarum bezeichnet (morsicatio labiorum = Beißen auf den Lippen; morsicatio linguarum = Beißen auf der Zunge) [Schmelzeisen, 2022] und kann alternativ als K13.1 „Wangen und Lippenbiss“ im Kapitel K13 „Sonstige Krankheiten der Lippe und der Mundschleimhaut“ klassifiziert werden. Onychophagie kann alternativ auch als „Sonstige näher bezeichnete Verhaltens- und emotionale Störung mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ (F98.88) diagnostiziert werden. Im DSM-5 werden die hier beschriebenen Störungsbilder als körperfokussierte, sich wiederholende Verhaltensweisen bezeichnet, die der Kategorie „Zwangsstörungen und verwandte Störungen“ zugeordnet sind. Aus der englischen Version des DSM stammt der Begriff „body-focused repetitive behavior disorder“. Im DSM-5 werden nur Trichotillomanie und Dermatillomanie als eigenständige Diagnosen gelistet, die hier beschriebenen Störungen fallen unter „andere nicht näher bezeichnete Zwangsstörung und verwandte Störung“. Mit der Einführung der ICD-11 im englischsprachigen Raum wurde die Einordnung der BFRBDs an das DSM-5 angepasst. Hier gehören die vier Störungsbilder zu den „sonstigen näher bezeichneten körperbezogenen repetitiven Verhaltensstörungen“ (6B25.Y). Cavitadaxia kann als „Selbst beigebrachte Verletzung der Lippen“ (DA00.1) klassifiziert werden. Für Onychophagie gibt es die alternativen Klassifikationen als „Sonstige näher bezeichnete Anomalie der Nageloberfläche“ (EE10.1Y). Um die Diagnose einer BFRBD stellen zu können, müssen folgende Kriterien erfüllt sein: wiederholte, erfolglose (selbst eingeleitete) Versuche, das betreffende Verhalten zu verringern oder zu beenden sowie ein klinisch signifikanter Leidensdruck oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen [APA, 2013; WHO, 2016]. Komorbidität und Differenzialdiagnostik Wichtig ist, dass Bruxismus im Schlaf nicht zu den BFRBDs gehört. Die Unterscheidung zwischen Bruxismus im Wachzustand und im Schlaf birgt jedoch Schwierigkeiten, zumal in einigen Fällen weder Wach- noch Schlaf-Bruxismus aktiv wahrgenommen wird. Es wird vermutet, dass im Wachzustand eher ein Anspannen der Kaumuskeln mit wiederholtem oder anhaltendem Zahnkontakt oder ein Anspannen des Unterkiefers eine Rolle spielen. Zudem soll Wach-Bruxismus stärker mit psychologischen Faktoren zusammenhängen [Bracci et al., 2022]. Neben Bruxismus sollten auch andere Gründe für eine verstärkte Abnutzung der Zähne in Betracht gezogen werden, zum Beispiel das Beißen auf Gegenstände wie Stifte. Neben Komorbiditäten mit anderen psychischen Erkrankungen wie Depression, Angststörungen oder ADHS kommen in vielen Fällen mehrere BFRBDs gleichzeitig vor [Lee und Lipner, 2022]. Behandlung Je nach Schwere der körperlichen Folgen, ist eine medizinische Behandlung und/oder eine psychologische Bezm115 Nr. 04, 16.02.2025, (229) CME AUF ZM-ONLINE Körperbezogene repetitive Verhaltensstörungen in der Zahnarztpraxis Für eine erfolgreich gelöste Fortbildung erhalten Sie zwei CME-Punkte der BZÄK/DGZMK.

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