Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 8

POLITIK | 77 zm115 Nr. 08, 16.04.2025, (679) IN ESTLAND SIND BEHÖRDENGÄNGE 100 PROZENT DIGITAL Das kleine Estland (1,3 Millionen Einwohner) hat einen außergewöhnlichen Meilenstein erreicht: Ende Januar teilte die Regierung mit, dass 100 Prozent seiner Behördendienste nun digitalisiert sind. „Damit ist Estland weltweit führend in der digitalen Verwaltung und setzt Maßstäbe für andere Länder.“ Die letzte Dienstleistung, die digitalisiert wurde, waren Scheidungen, heißt es weiter. „Die Digitalisierung der Scheidung spiegelt Estlands Engagement wider, selbst die komplexesten Lebensereignisse einfacher und zugänglicher zu machen. Es geht nicht nur um Technologie, sondern darum, Dienstleistungen zu schaffen, die den Bedürfnissen der Menschen in schwierigen Zeiten gerecht werden“, sagte Enel Pungas, Leiter der Abteilung Bevölkerungsdaten im estnischen Innenministerium. Der Dienst umfasse eine obligatorische 30-tägige Bedenkzeit, die eine wohlüberlegte Entscheidungsfindung gewährleiste. Darüber hinaus biete er Instrumente für die Aufteilung des ehelichen Vermögens und Orientierungshilfen für Familien bei Sorgerechtsvereinbarungen. Über die Scheidung hinaus hat die digitale Verwaltung in Estland laut Mitteilung „eine beachtliche Akzeptanz erfahren: 85 Prozent der Geburtenregistrierungen und 56 Prozent der Heiratsanträge werden inzwischen digital abgeschlossen“. Der deutsche IT-Berater Florian Marcus arbeitet in Estlands Hauptstadt Tallinn und bestätigt den zm, dass die Begeisterung in der Bevölkerung ungebrochen ist. Vergleichbare Vorstöße wie die Petition von Digitalcourage seien ihm nicht bekannt. Eine Benachteiligung durch die Digitalisierung sei „kein Thema im öffentlichen Diskurs“ – obwohl das digitale Gesundheitssystem von seinem Beginn an im Jahr 2008 verpflichtend war. Marcus: „Es erfreut sich größter Beliebtheit und schon bald wird es frischgebackene Volljährige geben, deren Gesundheitsdaten seit Geburt digital sind.“ INTERVIEW MIT DEM PATIENTENBEAUFTRAGTEN STEFAN SCHWARTZE „Es ist essenziell, dass Patienten Arzttermine auch ohne digitale Tools vereinbaren können“ Im Gespräch erklärt der Patientenbeauftragte Stefan Schwartze (SPD), für wie sinnhaft er die Petition des Vereins Digitalcourage hält, warum die Sorge vor mangelhaftem Datenschutz Gift für ein Gesundheitswesen ist und wie im fast volldigitalisierten Lettland auch weiterhin ein analoger Zugang zu Leistungen sichergestellt wird. Herr Schwartze, wie viele Patientinnen und Patienten empfinden Ihrer Ansicht nach einen „Digitalzwang“ und wie sollte man auf sie zugehen? Mir sind hierzu keine einschlägigen Zahlen oder Daten bekannt. Was ich beobachte, ist, dass die Digitalkompetenz und der kritische Umgang mit Gesundheitsdaten bei Patientinnen und Patienten sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. Das Spektrum reicht hier von Menschen, die digitale Lösungen, zum Beispiel Apps, bedenkenlos nutzen und der Erhebung, Nutzung und Weiterverarbeitung ihrer Daten in allen Fällen zustimmen, über Personen, die sich die Produkte und Datenschutzbestimmungen genauer anschauen, bis hin zu Patientinnen und Patienten, die digitale Lösungen nicht nutzen können oder wollen. Digitalisierung kann viele Vorteile für Patientinnen und Patienten bringen, doch wir dürfen nicht übersehen, dass sich ein Teil der Bevölkerung von der zunehmenden digitalen Transformation ausgeschlossen fühlt. Es gibt Hinweise darauf, dass insbesondere ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen oder solche mit einem eingeschränkten Zugang zu digitalen Endgeräten und dem Internet betroffen sind. Auf sie sollte aktiv zugegangen werden – mit gezielter Aufklärung, mit Unterstützung beim Erwerb von Digitalkompetenz beziehungsweise digitaler Gesundheitskompetenz sowie bei der Nutzung digitaler Anwendungen. Wir müssen aufpassen, dass wir hier niemanden abhängen. Niedrigschwellige analoge Alternativen sollten aus meiner Sicht weiter bestehen, und es sollte kein Nachteil sein, wenn jemand deren Nutzung bevorzugt. Wie bewerten Sie als Patientenbeauftragter die Argumentation, es brauche einen Rechtsanspruch darauf, medizinische Versorgung ohne die Verwendung digitaler Dienstleistungen nutzen zu können? Es ist wichtig, dass alle Menschen Zugang zu einer qualitativ hochwerKinder und Menschen mit geringem Einkommen. „ Nicht noch mehr Überwachung! Der Zwang, für bisher allgemein verfügbare Dienste nun ein Smartphone oder bestimmte Apps nutzen zu müssen, führe „zu immer neuen detaillierten Datensammlungen, die eine umfassende (kommerzielle) Überwachung aller Lebensbereiche ermöglichen“. „ Wahlfreiheit! Wir wollen frei entscheiden, wann wir mit einem Smartphone unterwegs sein wollen – und ob wir überhaupt eines besitzen. Wir wollen auch frei entscheiden können, welche Software und welches Betriebssystem wir installieren. Ein verantwortlicher Gebrauch von Technik setzt voraus, dass wir uns auch dagegen entscheiden können. „ Resilienz! Gesellschaftliche Abhängigkeit von digitalen Lösungen ist ein Risiko. Es ist besser, wenn immer noch ein nicht-digitaler Weg zur Verfügung steht. mg

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