38 | TITEL FORTBILDUNG KARIESEXKAVATION Wie viel muss entfernt, was kann belassen werden? Wer kennt das nicht? Man geht zum Arzt, erhält eine Diagnose und eine Therapieempfehlung. Aber man ist unsicher und sucht daher eine Zweitmeinung. Nicht selten entspricht diese nicht der ersten. Aber wie kann das sein, gehen wir doch davon aus, dass Therapieempfehlungen grundsätzlich auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen? DiewissenschaftlicheBasisfürTherapieempfehlungen kann allerdings durchaus divergent sein, denn letztlich beruht die Medizin auf der Interpretation von wissenschaftlichen Ergebnissen und eigenen Erfahrungen der Therapierenden. Auch wenn man gerne auf klar definierte Therapierichtlinien und –rezepte zurückgreifen möchte, bleiben Erfahrung und ein gewisses Maß an Vertrauen in die eigene Vorgehensweise unverzichtbar für die Entscheidungsfindung am individuellen Patienten. Insofern kann es in vielen Fällen die einzig absolut richtige Therapiemaßnahme gar nicht geben und wir müssen in diesem Spannungsfeld die Verantwortung für unsere Entscheidungen annehmen. Auch in der Zahnmedizin lässt sich das für zahlreiche Handlungsfelder feststellen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Kariesexkavation. Der vorliegende Fortbildungsteil stellt sich diesem Thema und ist außergewöhnlich, weil sich Autoren mit unterschiedlicher Herangehensweise bereit erklärt haben, ihre Sichtweise klinisch und wissenschaftlich fundiert darzustellen. Der Fortbildungsteil verdeutlicht, dass koronale Karies (bei Erwachsenen) im peripheren, pulpafernen Bereichen vollständig entfernt werden soll. Bei tiefer, pulpanaher Karies besteht aber nach wie vor Dissens. Worin besteht nun dieser Dissens? Im Kern geht es darum, dass bei der Kariesexkavation im pulpanahen Bereich die Gefahr besteht, ungewollt die Pulpa zu eröffnen. Um dieses als invasiv wahrgenommene Szenario zu vermeiden, sind viele Behandler dazu übergegangen, unter bestimmten Voraussetzungen Karies in der Läsion zu belassen und durch eine bakteriendichte Restauration zu arretieren. Andere halten an der vollständigen Kariesexkavation fest und behandeln im Fall der Pulpaeröffnung mit Maßnahmen der Vitalerhaltung der Pulpa oder – wenn das nicht möglich ist – endodontisch. Obwohl die Fragestellung zunächst sehr klar erscheint, stößt man bei genauerem Hinsehen schnell auf komplexe Zusammenhänge und viel diagnostische Unsicherheit. So ist die Pulpadiagnostik in vielen Fällen schwierig: Was bedeutet zum Beispiel ein positiver Sensibilitätstest, wenn man weiß, dass eine chronische Entzündung der Pulpa auch ohne Symptome vorliegen kann? Bei der Pulpa tappen wir im Dunkeln Im Beitrag von Dammaschke wird die vollständige Exkavation der Karies in tiefen Kavitäten für eine langfristig erfolgreiche Vitalerhaltung der Pulpa empfohlen, auch wenn dabei die Pulpa eröffnet wird, da die in der Literatur angegebenen klinischen Erfolgsquoten für die selektive Kariesexkavation über die Zeit drastisch sinken. Zudem wurde in den meisten Studien der klinische „Erfolg“, der selektiven Kariesexkavation nur durch einen Sensibilitätstest und anhand einer Beschwerdefreiheit überprüft. Man weiß aber, dass vielfach die klinische und histologische Diagnose nicht übereinstimmen und klinisch der Zustand der Pulpa zu positiv eingeschätzt wird. Es fehlen also bisher wissenschaftlich fundierte Verfahren, um den tatsächlichen Status der Pulpa klinisch zu bestimmen. Haak und Schmidt wissen um das Problem, gewichten es aber anders und geben der selektiven Kariesentfernung den Vorzug, um eine Pulpaeröffnungzu vermeiden. Gleichzeitig wird aber auch erwähnt, dass Grundvoraussetzungen für den Erfolg der selektiven Kariesentfernung eine ausreichende Immunkompetenz sowie ein ausreichendes regeneratives und reparatives Potenzial der Pulpa sind, damit es zur Bildung von Tertiärdentin an der Pulpa-DentinKontaktfläche unter der Läsion kommt. Die Therapie der Wurzelkaries wird von Ganß et al. beschrieben. Wie die Autoren anmerken, wird die Therapieentscheidung bei Wurzelkaries von vielen Faktoren beeinflusst und bedarf komplexer Überlegungen. Auch hier gibt es Empfehlungen, die Karies selektiv oder vollständig zu entfernen. Allerdings gibt es wenig bis keine Evidenz für die Überlegenheit eines Verfahrens, so dass nur Analogschlüsse aus Studien bei der Exkavation koronaler Karies möglich zm115 Nr. 09, 01.05.2025, (736) ALLE BEITRÄGE DER FORTBILDUNG zm9/2025 Kariestherapie im Milchzahngebiss mit und ohne Bohren Kariesentfernung – Wie viel kann belassen werden? zm10/2025 Kariesexkavation: Wie viel muss entfernt werden? Therapie der Wurzelkaries Foto: privat Univ.-Prof. (a.D.) Dr. med. dent. Elmar Hellwig
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