Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 9

TITEL | 51 Die Behandlung kariöser Läsionen mit pulpanaher Ausdehnung an vitalen Zähnen stellt im zahnärztlichen Praxisalltag eine besondere Herausforderung dar. Dabei ist es das Ziel, die Vitalität des Zahnes zu erhalten und eine langlebige Restauration zu etablieren, um die Zahnhartsubstanz möglichst zu schonen und so langfristig zum Zahnerhalt beizutragen. Dabei wird die Frage, wie weit kariöses Dentin entfernt werden sollte, nach wie vor kontrovers diskutiert. Aus kariologischer Sicht stellt das selektive Belassen kariös veränderten Dentins bei sorgfältiger Indikationsstellung und entsprechender technischer Umsetzung eine evidenzbasierte Therapiestrategie bei profunden Kariesläsionen dar. Eine bakteriendichte Restauration ist dabei eine wesentliche Voraussetzung für einen günstigen Therapieverlauf. Sie kann verhindern, dass Bakterien, deren Toxine sowie Substrate für Stoffwechselprozesse ins verbliebene, kariös veränderte Dentin gelangen. Wann ist eine selektive Kariesentfernung indiziert? Grundsätzlich stellt sich die Frage nach einem spezifisch angepassten (selektiven) Endpunkt der Kariesentfernung im Wesentlichen nur bei pulpanahen kariösen Läsionen, die – wie in den Abbildungen 1 und 2 – röntgenologisch eine Ausdehnung bis ins innere Dentindrittel oder -viertel aufweisen. Bei einer geringeren Ausdehnung bis maximal ins mittlere Dentindrittel (Abbildung 1A, weißer Pfeil) ist hingegen eine nicht-selektive Kariesentfernung bis ins harte Dentin angezeigt [Schwendicke et al., 2021]. Ziel ist es, das Risiko der artifiziellen Pulpaeröffnung zu reduzieren und die Pulpaintegrität zu schützen, da die Eröffnung der Pulpa im Rahmen der Kariesentfernung mit einer deutlich schlechteren Prognose für den Vitalerhalt einhergeht [Bjørndal et al., 2010]. Die non-selektive Entfernung kariös veränderten Dentins bis zum Endpunkt „hartes Dentin“ wird daher inzwischen bei tiefen Läsionen ohne klinische Symptome von einigen Autoren als Übertherapie eingestuft [Carvalho, 2023; Widbiller et al., 2022]. Grundvoraussetzung für den Erfolg der selektiven Kariesentfernung sind die Immunkompetenz sowie das regenerative und reparative Potenzial der Pulpa, das mit der Bildung von Tertiärdentin an der Pulpa-Dentin-Kontaktfläche unter der Läsion einhergeht. Entzündliche Prozesse in der Pulpa beginnen bereits in frühen Stadien des kariösen Prozesses [Fejerskov et al., 2015]. Ob diese Entzündung reversibel ist, ist klinisch teilweise schwierig zu beurteilen. Diagnostisch erfolgen die Überprüfung der Sensibilität (positive Kälte-Reak– tion) sowie der Ausschluss fortgeschrittener pulpitischer Beschwerden und apikaler Veränderungen im Röntgenbild. Die selektive Kariesentfernung kann bei Symptomfreiheit, aber auch bei initialen bis milden Pulpitissymptomen angewendet werden [Wolters et al., 2017]. Wenn Beschwerden vorliegen, sollten sie Reiz-induziert sein mit heller Schmerzqualität auf Kälte, den Reiz maximal 20 Sekunden überdauern und nicht mit Perkussionsempfindlichkeit einhergehen (Tabelle 1). Da die Pulpa über ein großes regeneratives Potenzial verfügt [Cooper et al., 2010; Graham et al., 2006] hat sich mittlerweile auf Basis der vorhandenen Evidenz durchgesetzt, die Indikationsstellung für vitalerhaltende Maßnahmen, zu denen auch die selektive Kariesentfernung gehört, zu erweitern [Wolters et al., 2017] (Tabelle 1). Was ist der Endpunkt bei der selektiven Kariesentfernung? Spätestens seit den Publikationen von G. V. Black zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich in weiten Teilen der zahnmedizinischen Community die Auffassung etabliert, dass möglichst alle kariös veränderten Dentinanteile zu entfernen sind. In diesem Zusammenhang wurde der Begriff der vollständigen Kariesexkavation geprägt, dem die Annahme zugrunde lag, dass eine derart weitgehende Entfernung der kariös veränderten Zahnhartsubstanz bis ins harte, potenziell unveränderte Dentin einer vollständigen Beseitigung der bakteriellen Kontamination entspricht. Verschiedene zm115 Nr. 09, 01.05.2025, (749)  1987 – 1992: Zahnmedizinstudium an der FU Berlin  1993–1996: Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FU/ Charité Berlin (Leiter: Prof. Dr. J.-F. Roulet)  1996–2010: (Ltd.) Oberarzt an der Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie der Universität zu Köln (Direktor: Prof. Dr. M. J. Noack)  2002: Spezialist für präventive und restaurative Zahnerhaltung (DGZ)  2008: Master of Medical Education (MME)  2010: Direktor der Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie der Universität Leipzig  2011 – 2015: Lenkungsgruppe des Nationalen kompetenzbasierten Lernzielkatalogs Zahnmedizin (NKLZ)  seit 1995: Fachredakteur Zahnerhaltung der Zeitschrift „Quintessenz“  2016–2020: Schriftleiter „Oralprophylaxe und Kinderzahnheilkunde“  seit 2017: Herausgeber „GMS Journal for Medical Education“  2021 – 2022: Präsident der Deutschen Gesellschaft für Zahnerhaltung e.V. (DGZ) Univ.-Prof. Dr. med. dent. Rainer Haak, MME Universitätsklinikum Leipzig, Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie Liebigstr. 12, Haus 1 04103 Leipzig rainer.haak@medizin.uni-leipzig.de Foto: UKL, S. Straube PD Dr. med. dent. Jana Schmidt Universitätsklinikum Leipzig Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie Liebigstr. 12, 04103 Leipzig jana.schmidt@medizin.uni-leipzig.de Foto: T. Meißner, UK Leipzig

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