40 | ZAHNMEDIZIN FORTBILDUNG KARIESEXKAVATION Wie viel muss entfernt werden? Till Dammaschke Die Diskussion, wie viel Karies unter einer Füllung belassen werden darf, ist nicht neu und findet sich immer wieder in der zahnmedizinischen Literatur. Trotz eindeutiger histologischer Beweise, dass das Belassen von Karies zu chronischen, subklinischen Entzündungen der Pulpa führt, ist die selektive Kariesexkavation, bedingt durch die adhäsive Füllungstechnik, in den letzten Jahrzehnten wieder verstärkt in den Fokus gerückt. UmdieWendezum20.Jahrhundert vertraten die meisten europäischen Autoren wie zum Beispiel Andrieu [1889], Miller [1896] und Preiswerk [1903] die Meinung, dass ein geringer Anteil von erweichtem, kariösem Dentin am Boden der Kavität belassen werden könne, sofern alle Karies an den Rändern vollständig entfernt wird. Dieser Ansicht widersprach Black [1908], der die vollständige Entfernung des gesamten kariösen Dentins forderte, auch wenn dies eine Freilegung der Pulpa bedeutet. Seitdem werden die beiden gegensätzlichen Lehrmeinungen diskutiert. Ein Grund für die Bevorzugung des Belassens von Karies waren damals sicherlich die Schwierigkeiten bei der Durchführung einer adäquaten endodontischen Behandlung. Auch gab es seinerzeit keine geeigneten Überkappungsmaterialien, um die Pulpa nach Freilegung vital zu erhalten. Daher hat Rebel vor über 100 Jahren die – inzwischen falsifizierte – Lehrmeinung postuliert: „Eine freigelegte Pulpa ist ein verlorenes Organ“ [Rebel, 1922]. Erst einige Jahre später konnte Hermann nachweisen, dass die nach vollständiger Kariesexkavation freigelegte und mit Kalziumhydroxid überkappte Pulpa eine hohe Überlebensrate aufweist [Hermann, 1928; 1930]. Trotzdem propagierte Bonsack in den 1940er Jahren erneut das Belassen von Restkaries unter Füllungen und bezeichnete dies als „Coiffage Naturel“ [Bonsack, 1948; 1949]. Noch heute findet sich im Französischen der Begriff „Coiffage Naturel de Bonsack“ als ein Synonym für die „indirekte Überkappung“ [Lasfargues und Machtou, 2010]. Auch im Englischen versteht man unter „indirect pulp capping“ das bewusste, dauerhafte Belassen von wenig kariös-verändertem Dentin in Pulpanähe unter definitiven Füllungen [Fehrenbach, 2020]. Dies steht im Widerspruch zur deutschen Definition, wo die indirekte Überkappung als medikamentöse Abdeckung einer dünnen, pulpanahen, kariesfreien Dentinschicht definiert wird [Schäfer et al., 2000]. Diese Unterschiede können zu einer Verwirrung bei der Interpretation der internationalen Literatur führen [Dammaschke et al., 2025]. Heute wird das Belassen von wenig kariös-erweichtem, pulpanahem Dentin als „selektive Kariesexkavation“ bezeichnet [Schmidt et al., 2024]. „The seal is the deal“ Die Idee hinter der selektiven Kariesexkavation ist, einen dichten adhäsiven Verschluss über dem verbliebenen kariös veränderten Dentin aufzubringen, um so die Kariesbakterien vom Zugang zm115 Nr. 10, 16.05.2025, (834) Fotos: Till Dammaschke a
RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=