Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 10

ZAHNMEDIZIN | 41 zm115 Nr. 10, 16.05.2025, (835) zu fermentierbaren Kohlenhydraten abzuschneiden. Eine bakteriendichte Restauration soll eine adäquate Ernährung der Mikroorganismen und damit eine weitere Infektion verhindern. Die Bakterien sollen unter der Füllung „verhungern“. Die adhäsive Versiegelung des kariösen Dentins arretiert so die Kariesprogression. Dies führt demzufolge nicht zu mehr klinischen Misserfolgen als die vollständige Kariesexkavation, vielmehr erscheint die selektive Kariesentfernung im Vergleich zur vollständigen Exkavation sogar überlegen zu sein [Kidd, 2004; Schwendicke et al., 2013; Schmidt et al., 2024]. Auch zwei systematische Cochrane Reviews kamen zu dem Schluss, dass die selektive Kariesexkavation klinische Vorteile hinsichtlich der Vitalerhaltung der Pulpa hat und der vollständigen Kariesexkavation überlegen ist. Durch selektive Kariesexkavation könnten signifikant mehr Zähne pulpavital erhalten werden. Daher sollte in pulpanahen Bereichen auf eine vollständige Entfernung sämtlichen kariös veränderten Dentins verzichtet werden. Diese Empfehlung ist demnach evidenzbasiert [Ricketts et al., 2013; Schwendicke et al., 2021]. So kam auch die Deutsche Gesellschaft für Zahnerhaltung (DGZ) 2017 in einer wissenschaftlichen Mitteilung zu dem Schluss, dass eine sorgfältig durchgeführte selektive Kariesexkavation heute als das zu bevorzugende Exkavationskonzept bei tiefer, pulpanaher Ausdehnung der Dentinkaries gilt [Buchalla et al., 2017]. Die Europäische Gesellschaft für Endodontie (ESE) befürwortet ebenfalls die selektive Kariesexkavation bei Zähnen mit reversibler Pulpitis, sofern eine Röntgenuntersuchung zeigt, dass die Karies nicht tiefer als bis zum letzten Dentinviertel Richtung Pulpa vorgedrungen ist und eine Restdentinschicht die kariöse Läsion von der Pulpakammer trennt [ESE, 2019]. „The seal is NOT the deal“ Klinische Erfolgsraten Im Laufe der Zeit sinken die in der Literatur angegebenen klinischen Erfolgsquoten für die selektive Kariesexkavation von 87 Prozent nach einem Jahr [Labib et al., 2019] und 83 Prozent nach zwei Jahren [Maltz et al., 2018] auf 63 Prozent nach zehn Jahren [Maltz et al., 2011]. Dies sind nur einige beispielhafte Ergebnisse. Eine vollständige Literaturübersicht findet sich bei Schwendicke et al. [2021]. Die Alternative zur selektiven Kariesexkavation ist die vollständige Kariesexkavation bis hin zur Pulpafreilegung mit anschließender Überkappung. Aus der Literatur zur Vitalerhaltung der Pulpa ist aber bekannt, dass hier höhere klinische Erfolgsquoten erzielt werden können. Ricucci et al. [2023] berichteten, dass die Erfolgsquote der direkten Pulpaüberkappung mit Kalziumhydroxid bei 225 Zähnen von 148 Patienten nach 1, 5, 10, 20 beziehungsweise 35 Jahren bei der Nachuntersuchung 100 Prozent, 95 Prozent, 95 Prozent, 86 Prozent und 89 Prozent betrug. In einer anderen Studie lag die Erfolgsrate der direkten Überkappung mit Kalziumhydroxid nach 13 Jahren bei 76 Prozent [Dammaschke et al., 2010]. Eine Metaanalyse kam zu dem Schluss, dass die klinischen Langzeiterfolgsquoten nach vollständiger Kariesexkavation und Verwendung von Kalziumhydroxid für die indirekte Überkappung bei 81,7 Prozent (± 8,9 Prozent), für die direkte Überkappung bei 70,1 Prozent (± 10,1 Prozent) und für die partielle Pulpotomie bei 79,3 Prozent (± 12,5 Prozent) liegen [Gulabivala und Ng, 2019]. Das Risiko eines Misserfolgs b Abb. 1: Bei einer 32jährigen Patientin ist an Zahn 47 der Austausch einer insuffizienten Amalgamfüllung geplant. Laut Patientin ist der Zahn asymptomatisch. Die Sensibilitätsprobe fällt positiv aus, die Perkussionsprobe negativ. (a): Während der Kariesexkavation fällt eine Eiterung am Kavitätenboden auf (gelber Pfeil). (b): Nach kurzer Zeit ergießt sich ein eitrig-blutiges Exsudat aus dem freigelegten Pulpakavum (gelber Pfeil). Trotz völliger Symptomlosigkeit liegt eine irreversible Pulpitis vor. Der Zahn 47 muss wurzelkanalbehandelt werden. Bei Belassen von Karies (selektive Kariesexkavation) wäre die Eiterung möglicherweise nicht aufgefallen.

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