44 | ZAHNMEDIZIN zm115 Nr. 10, 16.05.2025, (838) Trotz klinischer Beschwerdefreiheit und positiver Sensibilitätstestung fanden sich in allen der 12 untersuchten Zähne ein bis neun Monate nach selektiver Kariesexkavation histologisch Entzündungszellen in der Pulpa und Granulozyten in den afferenten Blutgefäßen [Ricucci et al., 2020] (Abbildung 2). Histologisch findet sich eben kein Zusammenhang zwischen klinischen Symptomen oder positivem Sensibilitätstest und dem Entzündungsprozess in der Pulpa [Langeland, 1976; Langeland, 1981]. Die Annahme ist daher falsch, dass, wenn keine Beschwerden bestehen oder die Sensibilitätsprobe positiv ausfällt, die selektive Kariesexkavation erfolgreich war [Langeland, 1981]. Das Fehlen von Schmerzen oder ein positiver Sensibilitätstest bedeutet nicht das Fehlen von Entzündungen oder Nekrosen der Pulpa [Langeland, 1987]. Dies sind keine neuen Erkenntnisse, sondern sie sind seit fast 100 Jahren wissenschaftlich nachgewiesen [Greth, 1933]. Histologie Da eine klinische Beurteilung bewiesenermaßen nicht ausreicht, um den Erfolg der selektiven Kariesexkavation zu belegen, erscheint es sinnvoll, die Auswirkung des Belassens von Karies auf die Pulpa histologisch zu untersuchen. Histologisch zeigte sich, dass eine selektive Kariesentfernung mit anschließender definitiver Versorgung der Zähne in 68 bis 100 Prozent der Fälle zu einer entzündlichen Veränderung der Pulpa führt (irreversible Pulpitis). Dagegen kam es nach vollständiger Kariesexkavation und anschließender indirekter beziehungsweise direkter Überkappung mit Kalziumhydroxid in nur 7 (indirekte Überkappung) bis 33 Prozent (direkte Überkappung) zu einem histologischen Misserfolg. Die Patienten waren in allen Fällen im gesamten Nachuntersuchungszeitraum von drei Monate bis zu fünf Jahren klinisch beschwerdefrei. Die Sensibilitätsprobe fiel in allen Fällen positiv aus [Wang, 1953; Ricucci et al., 2019]. Nach selektiver Kariesexkavation ließen sich histologisch in den Pulpen aller zwölf untersuchten Zähne chronisch-entzündliche Zellinfiltrate identifizieren. Nach ein bis neun Monaten waren sowohl verstreute Entzündungszellen als auch ausgedehnte lokale Ansammlungen von Entzündungszellen nachzuweisen. Die Kapillaren waren deutlich mit Erythrozyten und polymorphkernigen Leukozyten gefüllt. Im Dentin unterhalb des Kavitätenbodens wurde bei allen Proben eine große Menge an anfärbbaren Bakterien beobachtet. Die im Dentin verbliebenen Bakterien provozierten über den gesamten Untersuchungszeitraum eine subklinische Pulpaentzündung. Alle Patienten waren daher klinisch völlig beschwerdefrei, die Sensibilitätsprobe positiv. Selektive Kariesexkavation führt eben nicht zu einer Kontrolle oder gar zu einem Verschwinden der bakteriellen Infektion (Abbildung 2) [Ricucci et al., 2020]. Eine Degeneration beziehungsweise Entzündung des Pulpagewebes nach selektiver Kariesexkavation ist eher die Regel denn die Ausnahme [Langeland, 1981]. Histologische Studien, die nach selektiver Kariesexkavation einen Erfolg (= gesundes Pulpagewebe) zeigen können, fehlen bisher völlig. Teilweise wird von einigen Autoren in einer Kariesläsion zwischen kariösinfiziertem und kariös-verändertem Dentin unterschieden. Demnach ist die äußere Schicht mit Bakterien infiziert (caries infected dentine), was zu einer nicht remineralisierbaren nekrotischen Kollagenmatrix führt. Dieses Dentin muss entfernt werden. In der inneren Schicht seien Bakterien gar nicht oder viel seltener zu beobachten (cariesaffected dentine). Dieses Dentin könne belassen werden, auch wenn es (lederartig) erweicht ist [Massler, 1967; Ogushi und Fusayama, 1975]. Entnimmt man nun aber unter Füllungen Proben aus dieser kariös-verändertem Dentinschicht, konnte in histologischen und mikrobiologischen Studien gezeigt werden, dass sich immer Bakterien nachweisen lassen und diese Mikroorganismen vermehrungsfähig sind [Lichtenberg Crone, 1968; Langeland et al., 1976; Langeland, 1981; Ricucci et al, 2020]. Lebensfähige Mikroorganismen konnten auch noch lange Zeit nach dem Legen einer Füllung aus der kariös-veränderten Dentinschicht gewonnen werden [Lichtenberg Crone, 1968]. Bakterien überleben unter Füllungen und führen zu einer irreversiblen Pulpitis [Langeland, 1981]. Entfernt man nur die oberflächlichen kariös-infizierten Dentinschichten, lässt man mit hoher Wahrscheinlichkeit eine beträchtliche Menge an vermehrungsfähigen Bakterien in der kariös-veränderten Dentinschicht zurück [Langeland et al., 1976]. Die Vorstellung, dass es eine kariös-veränderte Dentinschicht gibt, die mehr oder weniger frei von Mikroorganismen ist, dürfte eher Wunschdenken und nicht die Realität sein. Darüber hinaus finden sich Bakterien auch in den Dentintubuli unterhalb der kariös-veränderten Dentinschicht, die Richtung Pulpa diffundieren [Langeland et al., 1976; Langeland, 1981; Ricucci et al., 2020]. Eine bakterielle Besiedlung der Dentintubuli ist dabei von entscheidender Bedeutung für das Fortschreiten der Karies und die Entwicklung von pulpalen und periapikalen Entzündungen. Aufgrund der einzigartigen Lage der Bakterien während des kariösen Prozesses in den Dentintubuli können körpereigene Abwehrmechanismen dort nicht aktiv werden. Eine Phagozytose (Abtöten der Mikroorganismen) durch Abwehrzellen tritt nicht eher auf, bis das Pulpagewebe in direkten Kontakt mit den Kariesbakterien steht [Hahn und Liewehr, 2007 a-c]. Bakterientoxine Grundsätzlich ist fraglich, ob sich klinisch tatsächlich immer bakteriendichte Füllungen legen lassen. Gerade im Approximalbereich lässt sich klinisch eine Dichtigkeit kaum überprüfen. Die Randdichtigkeit von Füllungen nach selektiver Kariesexkavation ist daher langfristig nicht garantiert [Hotz, 2003]. CME AUF ZM-ONLINE Wie viel muss entfernt werden? Für eine erfolgreich gelöste Fortbildung erhalten Sie zwei CME-Punkte der BZÄK/DGZMK.
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