Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 10

46 | ZAHNMEDIZIN zm115 Nr. 10, 16.05.2025, (840) bung effektiv isoliert wird. Allerdings ist die Haftung von Dentinadhäsiven und Kompositen an kariös verändertem Dentin im Vergleich zur Haftung an kariesfreiem Dentin signifikant niedriger [Xie et al., 1996; Yoshiyama et al., 2002; Say et al., 2005; Tjäderhane, 2015]. Daher zeigen Zähne nach selektiver Kariesexkavation und dentinadhäsiver Restauration einen hochsignifikant niedrigeren Frakturwiderstand der Kompositfüllungen im Vergleich zu vollständig exkavierten und restaurierten Zähnen. Es kam signifikant häufiger zu Frakturen innerhalb der Kompositfüllung und damit zu Undichtigkeiten [Hevinga et al., 2010]. Falls nun Mikroorganismen über diese Frakturspalte unter die Füllung vordringen oder überlebende Bakterien über den eindringenden Speichel Zugang zu Substraten bekommen, setzen sie ihren Dentin-auflösenden Prozess unterhalb der Hybridschicht fort. Die Hybridschicht wird zerstört und es kommt zu einem Kollaps des Dentins sowie einer Separation und damit zu Spaltbildung zwischen Füllung und Dentin. Über dieses Mikroleakage können weitere Bakterien eindringen und zu einer Pulpadegeneration führen. Ein anderes Problem stellen die Bestandteile der Dentinadhäsive und Kompositmaterialien dar, wenn diese nach der selektiven Kariesexkavation ohne Unterfüllung direkt auf das Dentin in der tiefen Kavität aufgetragen werden. Unpolymerisierte Bestandteile aus Dentinadhäsiven und Kompositen zeigen eine Immunsuppression auf Abwehrzellen der Pulpa und die natürliche Abwehrleistung der Pulpa ist eingeschränkt [Jontell et al., 1995; Bergenholtz, 2000]. Neben den bakteriellen Stoffwechselprodukten (Endotoxine) werden zusätzlich Kompositbestandteile (zum Beispiel Monomere) freigesetzt, die ebenfalls durch das verbliebene Dentin diffundieren und in die Pulpa eindringen. Dadurch wird das Pulpagewebe zusätzlich geschädigt [Schweikl et al., 2017]. Dentinadhäsivbestandteile können dabei problemlos dünne Dentinschichten durchdringen. Zwar führt Karies zu Dentinsklerosierung, aber TEGMA und HEMA diffundieren beispielsweise auch durch sklerosiertes Dentin [Schweikl et al., 2006]. Pulpanekrosen können daher als Folge der kumulativen Auswirkungen von verbleibenden Mikroorganismen durch die selektive Kariesexkavation in Kombination mit pulpatoxischen Restaurationsmaterialien auftreten [Ricucci und Siqueira, 2013]. Fazit Es gibt eindeutige histologische Beweise dafür, dass ein direkter Zusammenhang zwischen Bakterien, die in der Kavität unter einer Restauration verbleiben, und einer Pulpaentzündung besteht. Histologisch ist das Belassen von Karies unter einer Füllung im Sinne einer selektiven Kariesexkavation nicht zu empfehlen, da dies nachweislich zu einer chronischen, subklinischen Entzündung des Pulpagewebes führt. Um die Pulpa langfristig vital zu erhalten, sollte das kariös-veränderte Dentin vollständig entfernt werden [Wang, 1953; Langeland und Langeland, 1968; Lichtenberg Crone, 1968; Langeland et al.; 1976; Langeland, 1981; Langeland, 1987; Ricucci und Siqueira, 2013; Ricucci et al., 2019; Ricucci et al., 2020]. Das Belassen von kariösem Dentin über der Pulpa ist vergleichbar mit dem Belassen oder Ansiedeln von Bakterien in der Nähe einer chirurgischen Wunde, die dann eine Entzündung unterhalten und zu Nekrosen führen kann [Ricucci et al., 2019]. Aus der Humanmedizin ist kein Behandlungskonzept bekannt, bei dem ein infiziertes, pathologisch verändertes Körpergewebe belassen wird, obwohl es technisch problemlos entfernt werden kann. Aus all diesen Gründen empfehlen sowohl die Deutsche Gesellschaft für Endodontologie und zahnärztliche Traumatologie (DGET) als auch die Amerikanische Gesellschaft für Endodontie (AAE) in ihren aktuellen wissenschaftlichen Stellungnahmen zur Vitalerhaltung der Pulpa die vollständige Kariesexkavation. Nur dadurch ist es möglich, den tatsächlichen Zustand des Pulpagewebes klinisch zu beurteilen. Verbleibt kariöses Dentin am Kavitätenboden, behindert dies die Sicht auf mögliche Pulpaveränderungen wie Hyperämie oder Nekrosen (Abbildung 1). Auch besteht das Risiko, eine bereits bestehende minimale Freilegung der Pulpa zu übersehen, wenn eine dünne Schicht kariösen Dentins an der tiefsten Stelle der Kavität verbleibt. Wissenschaftlich lässt sich zudem eine höhere Erfolgswahrscheinlichkeit der derzeit propagierten selektiven Kariesexkavation gegenüber den vitalerhaltenden Maßnahmen nach Freilegung der Pulpa nicht feststellen [Dammaschke et al., 2019; AAE, 2021]. Für eine langfristig erfolgreiche Vitalerhaltung der Pulpa sollte daher auch in tiefen Kavitäten die Karies vollständig exkaviert werden. Abschließend muss die Kavität desinfiziert (Natriumhypochlorit) und der Pulpa-Dentin-Komplex mit einem geeigneten Überkappungsmaterial (Kalziumsilikatzement) versorgt werden [Dammaschke & Benjamin, 2021; Dammaschke et al., 2025]. Letztlich ist die Frage, was man mit seiner Behandlung erreichen möchte. Eine selektive Kariesexkavation führt nach der Behandlung vermutlich „nur“ zu einer klinischen Symptomlosigkeit, aber langfristig nicht zu histologisch gesundem Pulpagewebe. Exkaviert man hingegen vollständig, bleibt das Pulpagewebe auch nach direkter Überkappung oder partieller Pulpotomie zu einem hohen Prozentsatz histologisch gesund. Da die pulpalen Veränderungen bei Belassen von Karies unter Füllungen in der Regel langsam ablaufen [Langeland, 1981], besteht für die selektive Kariesexkavation möglicherweise dann eine Indikation, wenn die klinische Behandlungssituation schwierig ist und Zähne nur (noch) eine begrenzte Verweildauer im Mund haben, wie zum Beispiel bei sehr jungen Patienten im Milchgebiss oder sehr alten Patienten mit Grunderkrankungen. n ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden.

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