70 | GESELLSCHAFT ZAHNARZT DR. JULIEN GRIVEL ÜBER SEINEN EINSATZ FÜR LEPRAKRANKE IN GRIECHENLAND „Einmal helfen und wieder gehen, das konnte ich nicht!“ Mehr als 25 Jahre hat der Schweizer Zahnarzt Dr. Julien Grivel in Griechenland unentgeltlich Leprakranke in Griechenland behandelt. Mitte März wurde auf dem Filmfestival Thessaloniki ein Dokumentarfilm über seine Arbeit gezeigt. Hier erzählt Grivel, was ihn damals als jungen Praxisgründer zu dieser Entscheidung bewogen hat, was er auf der Leprastation vorfand und wie er heute auf Griechenland blickt. Herr Grivel, Sie haben 26 Jahre lang pro bono Bedürftige zahnmedizinisch versorgt. Allerdings nicht in Afrika oder in Südostasien, sondern Sie haben Leprakranke in Griechenland behandelt. Wie kam es dazu? Dr. Julien Grivel: Als ich 1972 meine Zahnarztpraxis in Genf aufmachte, fragte mich ein Freund, der an den Dreharbeiten zu dem Film „L'ordre“ des Franzosen Jean-Daniel Pollet über Lepra in Griechenland beteiligt war, ob ich bereit wäre, nach Athen zu kommen, um einen Leprakranken zahnmedizinisch zu behandeln. Ich war überrascht, dass diese Krankheit so nahe bei uns grassierte. Ich hörte zwei Stimmen in mir: Die eine sagte: „Mach schon, es lohnt sich.“ Die andere sagte: „Sichere deine Zukunft!“ Ich ging zur Verzweiflung meiner Eltern das Risiko ein und machte mich auf den Weg nach Athen. Ich hörte auf meine innere Stimme. Das gab mir eine große Freiheit im Denken und Handeln. Was fanden Sie konkret in Athen vor? Der Patient, den ich behandeln sollte, Herr Epaminondas Remoundakis, war durch die Krankheit stark stigmatisiert. Er litt an multibazillärer Lepra: Der Nasenknochen verschwindet, dazu kamen eine Atrophie des oberen Alveolarfortsatzes und des oberen Nasendorns sowie eine Gaumenperforation, die eine Mund-Antrum-Verbindung zur Folge hatte. Man kann sich vorstellen, wie schwierig es für diesen Patienten war, zu essen und zu trinken. Wie fühlten Sie sich? Wie Sie sich vorstellen können, war ich sehr erschüttert. Aber dieser Mann hatte trotz seiner Blindheit und Verstümmelung eine solche Ausstrahlung, eine solche Vitalität in sich, dass seine innere Schönheit zum Vorschein kam. Wie edel er war! Er wurde von seiner Frau Tassia unterstützt, die ihn führte und sich mit zärtlicher Fürsorge um ihn kümmerte. Er nannte sie „meine kleine Öllampe, mein tröstender Engel“. Die Kraft und Hoffnung, die von ihm ausgingen, linderten den schmerzhaften Eindruck. Und anstatt vor Emotionen zu erstarren, sagte ich mir, dass ich da war, um ihm wieder eine Kaufunktion und damit eine Würde zu verleihen. Wie war damals die Situation der Leprakranken in Griechenland? Die war schwierig, übrigens für die gesamte griechische Bevölkerung. Die meisten Kranken lebten seit 1957 in der Leprastation, die im Krankenhaus für Infektionskrankheiten Aghia Barbara eingerichtet worden war. Damals wurden alle Leprakranken Griechenlands dorthin gebracht. Am Ende ihrer Behandlung erhielten sie ihre Entlassungspapiere. Sie lebten wie in einem Dorf in Hütten, die über ein großes Gelände verteilt waren. Einige hatten Gemüsegärten, Hühner und Kaninchen. Unter ihnen herrschte eine große Solidarität. Welche Symptome hatten die Patientinnen und Patienten? Sie hatten Verstümmelungen, körperliche Missbildungen und Blindheit. Es handelte sich vor allem um Menschen, die ein Leben lang ihrer Schönheit und ihren Träumen nachtrauerten. Welche zahnmedizinischen Behandlungen fielen denn an? Die Patienten litten vor allem an Atrophien des oberen Alveolarfortsatzes und an Zahnverlust aufgrund einer schwierigen Zahnhygiene bei verstümmelten Gliedmaßen, seltener an einer Mund-Antrum-Verbindung. Ich führte natürlich Extraktionen durch, machte Füllungen, Brücken und vor allem Teilund Totalprothesen. Unterstützt wurde ich dabei von meiner Frau Christiane, die lieber an meiner Seite blieb, als am Strand zu liegen. Waren die Behandlungen durch die Erkrankung erschwert? Falls ja, inwiefern? Die schwierigsten Behandlungen waren die Fälle, in denen die Zähne eines Oberkiefers so weit elongiert waren, dass sie in Kontakt mit der gegenüberFotos: Youtube-ΣΤΑΥΡΟΣΨΥΛΛΑΚΗΣ- ΦΙΛΟΙ ΝΤΟΚΙΜΑΝΤΕΡΤΟΥΣΚΗΝΟΘΕΤΗ zm115 Nr. 10, 16.05.2025, (864) Für den Dokumentarfilm „Sculptured Souls“ von Regisseur Stavros Psillakis besucht Julien Grivel mit seiner Frau Christiane die mittlerweile verfallene ehemalige Lepraklinik Aghia Barbara.
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