Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 10

GESELLSCHAFT | 71 Zahnarzt Dr. Julien Grivel liegenden zahnlosen Schleimhaut kamen. Für den Patienten war dadurch das Kauen möglich, aber für mich war es unmöglich, eine Prothese auf der zahnlosen Oberfläche anzufertigen, weil es keinen Platz gab und der Patient nicht wollte, dass ich diese elongierten Zähne entfernte. Wie waren die Einsätze in Griechenland mit Ihrer Praxis in der Schweiz vereinbar? Ich besuchte die Klinik in Griechenland zweimal im Jahr für vierzehn Tage und hatte in Genf eine sehr geduldige Patientenschaft. Warum blieb es nicht bei einer einmaligenHilfe? Das konnte ich nicht. Als ich damals die zahnmedizinischen Probleme in diesem Krankenhaus sah – es gab dort damals etwa 500 Patienten –, bat ich den griechischen Gesundheitsminister Spiros Doxiadis um die Erlaubnis, die Arbeit fortsetzen zu dürfen. Und er gab sie mir. Ich fühlte mich nützlich. Was hat Sie besonders beeindruckt im Umgang mit den Leprapatienten? Die Einstellung dieser Menschen zum Leben: Ich habe mich oft gefragt, wie sie die Fähigkeit hatten, ein Leben zu leben, das ein barbarisches Schicksal war, und trotzdem aufrecht zu bleiben. Ich erinnere mich an einen Patienten, der mir sagte: „Trotz meiner Blindheit habe ich nie zugelassen, dass die Dunkelheit in meine Gedanken eindringt!“ Er hat das Licht verloren – wie man auf Griechisch sagt, wenn man erblindet – aber er hat ein anderes Licht gefunden, das Licht des Lebens. Das ist es, was sie mir weitergegeben haben. Außerdem freundete ich mich mit Herrn Manolis Foundoulakis an, einem weiteren Protagonisten in Psillakis' Film, der mir half, viele Freundschaften in Griechenland zu knüpfen. Gab es Kooperationen mit griechischen Zahnärzten vor Ort? Natürlich gab es eine sehr gute Zusammenarbeit mit dem griechischen Zahnarzt des Krankenhauses. Vor allem aber begleitete mich ein Freund und Kollege, Alain Morgantini aus dem italienischsprachigen Teil der Schweiz, etwa zehn Jahre lang in die Leprakolonie. 1998 beendeten Sie Ihr Engagement, blieben dem Land aber tief verbunden. Ja, ich kenne das Land mittlerweile seit einem halben Jahrhundert. Meine Beziehung ist nicht nur touristisch, mythologisch, historisch, sondern auch mental. Griechenland ist für mich nicht nur ein Land mit Meer, wilden Landschaften in ungezähmter Natur, sondern es ist zu einer Dimension geworden. Im März feierte der griechische Dokumentarfilm „Sculptured Souls“ Premiere, der Filmemacher Stavros Psillakis würdigt darin Ihren Einsatz für die Leprakranken. Wie kam es zu diesem Projekt? Dieser Dokumentarfilm ist kein Film über Lepra. Er beleuchtet die Tatsache, dass – wenn Angst und Vorurteile verschwinden – eine unwahrscheinliche Begegnung zwischen zwei sehr unterschiedlichen Welten durch Akzeptanz, Respekt und Liebe möglich wird. Wie die Zeitung Neakriti am 27. April schrieb, „ist dieser Film eine Ode an die Tiefe des Bewusstseins, die Macht des Gebens und die überwältigende Schönheit, die entsteht, wenn zwei Menschen sich nicht mit dem Verstand, sondern mit der Seele begegnen“. Das Projekt entstand nach einer Veranstaltung zu meinen Ehren, bei der ich über meine Begegnung mit diesen Patienten gesprochen hatte. Der Regisseur Stavros Psillakis kam auf mich zu und sagte: „Ich bin Dokumentarfilmer und würde gerne einen Film über dich machen.“ Was bedeutet Ihnen der Film? 30 Jahre lang war diese Mission still und leise verlaufen. Und das war mir recht. Dann wollte mein Freund, Herr Foundoulakis, ein ehemaliger Leprakranker, dass meine Dissertation „Lepra in Griechenland und Kreta im 20. Jahrhundert“ (1998) ins Griechische übersetzt wird, weil er wollte, dass die Menschen wissen, was diese Kranken durchgemacht hatten, und dass die Vorurteile gegenüber dieser Krankheit verschwinden. Von da an stellte ich meine Arbeit in Griechenland und auf Kreta vor, schrieb zwei Bücher und wurde ein wenig bekannt. Ich hatte keine Erwartungen, aber dieser Film ist eine schöne Anerkennung, zumal meine Frau Christiane, die Protagonistin des Films, mich bei dieser Mission begleitete und mir bei meinen Behandlungen half. Sie wurde von allen Patienten in dieser Leprakolonie geliebt. Das Gespräch führte Marius Gießmann. zm115 Nr. 10, 16.05.2025, (865)

RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=