Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 12

46 | ZAHNMEDIZIN obachtungen bis zu 18 Monaten. Nach fünf Jahren Beobachtungszeit gab es keinen signifikanten Unterschied zwischen selektiver und non-selektiven Kariesentfernung [Figundio et al., 2023]. Diese Ergebnisse werden durch eine kürzlich veröffentlichte randomisierte klinische Studie gestützt, die die selektive Kariesentfernung in bleibenden Zähnen über einen Zeitraum von 18 Monaten untersuchte und ebenfalls signifikant höhere Erfolgsraten nach selektiver statt non-selektiver Exkavation beschrieb [Barros et al., 2025]. 4. Zusätzlich werden die Erfolgsraten der direkten Überkappung nach non-selektiver Exkavation durch zwei ausgewählte Studien beschrieben und daraufhin unterstellt, die direkte Überkappung erziele „höhere klinische Erfolgsquoten“ als die selektive Exkavation. Die große Zahl an Studien, die mäßige bis schlechte Erfolgsraten nach direkter Überkappung belegen [Cushley et al., 2021], werden ignoriert oder als „falsch durchgeführt“ bezeichnet. Diese falsche Durchführung wird unter anderem mit dem nicht erfolgten Einsatz von Vergrößerungshilfen und dem Verzicht auf den Einsatz von Kalziumsilikatzementen zur Überkappung begründet. Außeracht gelassen wird dabei, dass eine solche Behandlung der Standard in den meisten zahnärztlichen Praxen in Deutschland sein dürfte. Zumindest könnte dies erklären, warum Routinedaten deutscher Krankenversicherungen (148.000 Behandlungen) Misserfolgsraten von zirka zehn Prozent pro Jahr nach direkter Überkappung beschreiben [Raedel et al., 2016]. Anders ausgedrückt: Fünf Jahre nach der direkten Überkappung ist jede zweite Pulpa entweder wurzelkanalbehandelt oder der Zahn extrahiert. Zusammenfassend ist festzuhalten: Die selektive Exkavation ist der nonselektiven Exkavation nicht unterlegen, sondern unter Berücksichtigung des Gesamtrisikos (inklusive der Gefahr einer Pulpaexposition) überlegen. Entscheidend ist hierbei, dass die selektive Exkavation einfach, ohne zusätzliche Kosten, zusätzliches Equipment, zusätzliches Material und durch den allgemein tätigen Zahnarzt durchzuführen ist [Schwendicke et al., 2013c]. Dass in der Hand von Spezialisten unter Einsatz optimaler Techniken und Materialien höhere Erfolgsraten zur Erhaltung der Pulpavitalität in Zähnen mit tiefen kariösen Läsionen erzielt werden können, bleibt unbestritten. 5. Hauptpfeiler der Argumentation in dem Beitrag ist die histologische Beurteilung von Pulpagewebe nach unterschiedlichen Exkavationsmethoden. Diese histologischen Analysen beziehen sich auf Studien einer einzelnen Autorengruppe, die oftmals kleine Fallzahlen (beispielsweise zwölf Zähne) als Basis ihrer Argumentation nutzt [Ricucci et al., 2020]. Die Zähne wurden unterschiedlichen Exkavationsmethoden unterworfen und dann aus chirurgischen oder kieferorthopädischen Gründen extrahiert. So interessant diese Studien sein mögen, leiden sie jedoch an der geringen Fallzahl und ihrer begrenzten Generalisierbarkeit. Zuvorderst aber ist zu kritisieren, dass die klinische Zahnmedizin doch keine histologischen Schnitte therapiert: Auf der Basis von zwölf untersuchten Zähnen klinische Empfehlungen für zehntausende Behandlungen pro Jahr in Deutschland abgeben zu wollen, mutet – gelinde gesagt – gewagt an, zumal die klinischen Daten auch mehrere Jahre nach der Initialtherapie eine andere Sprache sprechen. 6. Zudem stehen die Ausführungen nicht, wie dargestellt, im Einklang mit den Empfehlungen der deutschen und europäischen Fachgesellschaften. DGZ zm115 Nr. 12, 16.06.2025, (1024) ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden. WISSENSCHAFTLICHE DEBATTE ZUR FORTBILDUNG „KARIESEXKAVATION“ Lobenswerte Empfehlungen, die sich widersprechen Ihre Artikel zur Kariesexkavation haben mich sehr interessiert, da dies ja quasi „elementare Grundlage“ meiner Tätigkeit darstellt, wie die saubere Ballannahme beim Fußball sozusagen. Allerdings bin ich nun völlig irritiert. Im Fazit zum Artikel „Wie viel kann belassen werden?“ aus zm 09/25 heißt es „Bei profunden kariösen Läsionen ist die selektive Kariesentfernung in Pulpanähe samt definitiver adhäsiver Sitzung in derselben Sitzung indiziert.“ Das Fazit zu „Wie viel muss entfernt werden?“ aus zm 10/25 lautet hingegen „Für eine langfristig erfolgreiche Vitalerhaltung der Pulpa sollte daher auch in tiefen Kavitäten die Karies vollständig exkaviert werden.“ Für mich zweimal sehr lobenswert konkrete Empfehlungen – die sich nur leider vollständig widersprechen. Zum Glück habe ich jetzt erst mal eine Woche Urlaub und muss nicht gleich am Montag bei der ersten profunden Karies entscheiden, ob ich nun eher den Autoren Haak/Schmidt oder Dammaschke folgen möchte. Dr. Johannes Polten Leipzig

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