Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 12

ZAHNMEDIZIN | 47 zm115 Nr. 12, 16.06.2025, (1025) WISSENSCHAFTLICHE DEBATTE ZUR FORTBILDUNG „KARIESEXKAVATION“ Eine Methode vermisst Bei der Diskussion, ob kariös verändertes Dentin belassen werden kann oder nicht, vermisse ich eine Methode, die ich seit 40 Jahren anwende: Selektives Exkavieren, Auftragen von Calciumhydroxidpaste auf das restliche veränderte Dentin und ein dichter Verschluss für drei bis vier Monate mit einem langzeitstabilen Provisorium (Harvardzement). Dass die Kavitätenränder dabei kariesfrei sein müssen, ist natürlich vorausgesetzt. Der traumatische Angriff der Bakterien oder deren Endotoxine ist für diese Zeit sicherlich deutlich vermindert und gibt dem pulpalen Gewebe Zeit, sich zurückzuziehen und Reizdentin aufzubauen. Nach Ablauf dieser Frist: Wiedereröffnung, Entfernung des veränderten Dentins, welches sich nun häufig „trockener“ anfühlt, und Legen der definitiven Adhäsivfüllung. Als Praktiker kann ich zwar keine evidenzbasierten Aussagen über den Erfolg dieser Methode machen, habe aber subjektiv gesehen gute Erfahrungen. Dr. Frank Liebers Gemünden Foto: Federico Rostagno – stock.adobe.com und ESE werden richtigerweise als Proponenten einer Schonung der Pulpa (unter anderem durch selektive oder schrittweise Exkavation) aufgeführt. Jedoch kommt auch die DGET – anders als dargestellt – zu einer deutlich ausgewogeneren Einschätzung zum Thema – zuletzt in ihren „Empfehlungen zur Vitalerhaltung der Pulpa“ aus dem Jahr 2019 (https://www.dgzmk.de/aktuelleempfehlungen-zur-vitalerhaltung-derpulpa). So formuliert der Artikel in den letzten ZM: „Da eine klinische Beurteilung bewiesenermaßen nicht ausreicht, um den Erfolg der selektiven Kariesexkavation zu belegen, erscheint es sinnvoll, die Auswirkung des Belassens von Karies auf die Pulpa histologisch zu untersuchen.“ In den Empfehlungen der DGET hingegen heißt es klar: „Ein klinischer Behandlungserfolg nach vitalerhaltenden Maßnahmen der Pulpa liegt vor, wenn die Zähne als „klinisch unauffällig” einzustufen sind, das heißt wenn diese auf die Sensibilitätsprobe reagieren, kein Spontanschmerz, Schmerzen auf Palpation oder Perkussion auftreten und keine Schwellung zu beobachten ist. Röntgenologisch dürfen keine Veränderungen, wie zum Beispiel periapikale Läsionen, sichtbar sein.“ Richtigerweise hat die DGET die Erfolgsbeurteilung von Exkavationsmethoden auf klinische Parameter gestützt – denn nur diese stehen dem klinisch tätigen Zahnarzt zur Verfügung. Auch formuliert die DGET hinsichtlich des Erfolgs der verschiedenen Exkavationsmethoden deutlich offener: „Trotz insgesamt günstiger Daten für vitalerhaltende endodontische Maßnahmen nach Pulpaexposition im Rahmen der Kariesexkavation steht mit der selektiven beziehungsweise der zweizeitigen Kariesexkavation eine weitere Behandlungsalternative zur Verfügung, die möglicherweise vergleichbare Erfolge aufweist.“ Dass eine solche selektive oder schrittweise Exkavation nur für bestimmte Gruppen (vulnerable Patienten) oder Zähne (deren langfristiger Erhalt sowieso kompromittiert ist) anwendbar ist, wie in dem ZM-Beitrag skizziert, liest sich in den DGET-Empfehlungen an keiner Stelle. Zusammenfassend unterstützt die vorhandene Evidenz ein weniger invasives Vorgehen bei tiefen Läsionen sehr wohl. Dass in der Hand des Spezialisten die non-selektive Exkavation und bei Bedarf direkte Pulpaüberkappung mit Kalziumsilikatzementen (oder auch die partielle oder vollständige Pulpotomie) eine Daseinsberechtigung hat, ist fraglos richtig. Auch ist es keine Frage, dass die Evidenz für die selektive und schrittweise Exkavation weiter ausbaufähig bleibt. Ebenso ist denkbar (und sogar wahrscheinlich), dass der Einsatz neuer Materialien und Behandlungsmethoden zu veränderten Ansätzen im Umgang mit der tiefen Karies führen wird. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind nahezu immer mit Unsicherheit behaftet – Empfehlungen wissenschaftlicher Fachgesellschaften kommen daher selten mit einem „muss“, sondern häufig mit einem „kann“. Eine balancierte und reflektierte Argumentation, die die vorhandene, teils lückenhafte oder widersprüchliche Evidenz berücksichtigt und diese für verschiedene Zielgruppen (allgemein tätige Zahnärzte, Spezialisten) einordnet, ist daher umso wünschenswerter. n Die Beiträge im Fortbildungsteil: Haak R, Schmidt J: Fortbildung Kariesexkavation. Kariesentfernung – Wie viel kann belassen werden? Zahnärztliche Mitteilungen (zm), 09/2025, S. 50-57. Dammaschke T: Fortbildung Kariesexkavation. Wie viel muss entfernt werden? Zahnärztliche Mitteilungen (zm), 10/2025, S. 40-46.

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