oto: Freepik, zm ZAHNMEDIZIN | 31 zm115 Nr. 13, 01.07.2025, (1105) Die vollständige Exkavation führt erwartungsgemäß deutlich häufiger zu einer Pulpaexposition, eröffnet aber zugleich die Möglichkeit, infizierte und irreversibel entzündete Pulpaareale gezielt zu entfernen – etwa im Rahmen einer partiellen oder vollständigen Pulpotomie. In der Hand erfahrener Spezialisten, mit entsprechender Ausstattung und professioneller Umsetzung, lassen sich mit dieser Methode selbst bei klinischen Pulpitissymptomen sehr hohe Erfolgsraten erzielen, was ebenfalls durch klinische Studien und systematische Übersichtsarbeiten eindeutig belegt ist [Li et al., 2024; Silva et al., 2025]. Voraussetzung dafür ist allerdings die Einhaltung eines sogenannten „erweiterten Behandlungsprotokolls“, wie es in der aktuellen S3-Leitlinie der European Society of Endodontology (ESE) gefordert wird [Duncan et al., 2023]. Dieses Protokoll umfasst: n die Verwendung von Kofferdamzur absoluten Trockenlegung, n die Desinfektion mit Natriumhypochlorit, n optische Vergrößerung mittels Lupenbrille oder Mikroskop, n die Anwendung eines hydraulischen Kalziumsilikatzements (zum Beispiel MTA) als Überkappungsmaterial in Kombination mit einer bakteriendichten, definitiven Restauration. Diese Maßnahmen stellen selbstverständlich keine große technische Herausforderung dar. Ebenso profitiert auch die selektive Kariesexkavation von einer sorgfältigen Durchführung einschließlich adäquater Trockenlegung und dem Einsatz von Vergrößerungshilfen. Dennoch bedeutet die Pulpotomie (partiell oder vollständig) nach vollständiger Kariesexkavation im Praxisalltag einen spürbaren Mehraufwand hinsichtlich Zeit, Ausstattung und Teamorganisation, der im Abrechnungssystem nur unzureichend abgebildet wird. Vor diesem Hintergrund erscheint die vollständige Exkavation pulpanaher Karies mit Pulpotomie dann gerechtfertigt, wenn das beschriebene Behandlungsprotokoll im Falle einer Pulpaeröffnung zuverlässig umgesetzt werden kann. Für Endodontologen beziehungsweise endodontisch versierte Behandler gehört die Umsetzung dieses Protokolls zur etablierten Routine im Praxisalltag. Fehlen jedoch entsprechende Erfahrungen oder Rahmenbedingungen, ist von einem deutlich erhöhten Misserfolgsrisiko für vitalerhaltende Maßnahmen auszugehen – und die Chance zur Pulpaerhaltung wird verspielt. Realistischerweise ist auch davon auszugehen, dass in der allgemeinzahnärztlichen Versorgung viele Pulpaeröffnungen im Rahmen der Kariesexkavation routinemäßig zu Vitalexstirpationen führen [Pandya et al., 2024]. Da eine gezielte Überweisung zur vitalerhaltenden Behandlung organisatorisch kaum umsetzbar ist, stellt die selektive Kariesexkavation somit eine sinnvolle und zugleich verantwortungsvolle Strategie im Praxisalltag dar – sofern die Pulpa klinisch weitgehend unauffällig ist. Jede Behandlungseinrichtung sollte daher kritisch prüfen, welches Verfahren unter den jeweiligen Rahmenbedingungen praktikabel und sicher anwendbar ist, denn ein evidenzbasiertes Behandlungskonzept entfaltet seinen Nutzen nur bei konsequenter Umsetzung im Praxisalltag. Gleichzeitig wäre es wünschenswert, dass beide Therapiekonzepte nicht als Konkurrenz um die „richtige“ Lösung gesehen werden, sondern nebeneinander existieren und sich in der klinischen Anwendung sogar sinnvoll ergänzen. So kann es selbst bei zurückhaltender, selektiver Kariesexkavation auch zur Pulpaexposition kommen. Doch die Chancen für den Erhalt der Pulpavitalität sind auch in diesen Fällen keineswegs – wie oft behauptet – automatisch reduziert. Im Gegenteil: Bei korrekt durchgeführter partieller oder vollständiger Pulpotomie sind Erfolgsraten von über 90 Prozent dokumentiert [Li et al., 2024; Silva et al., 2025; Wang et al., 2024]. Obwohl sowohl die selektive Kariesentfernung als auch die vollständige Exkavation mit korrekt durchgeführter Vitalerhaltung bei freiliegender Pulpa klinisch erfolgreich sind, ist bislang nicht eindeutig geklärt, welches dieser Konzepte die besseren Bedingungen für einen langfristigen Vitalerhalt der Pulpa bietet. Auch die aktuelle S3-Leitlinie der ESE betont, dass hierzu noch keine ausreichende Evidenz vorliegt [Duncan et al., 2023]. Sollten sich in zukünftigen Studien eindeutige Vorteile für eine der beiden Methoden abzeichnen, müssen die klinischen Empfehlungen entsprechend angepasst werden. Dabei sollte jedoch primär die Erfolgsprognose und weniger der Aufwand der Behandlungsmethoden im Vordergrund stehen. Bis dahin haben beide Ansätze ihre klare Berechtigung und sollten entsprechend der individuellen Situation zum Wohle des Patienten eingesetzt werden. n Prof. Dr. med. dent. Matthias Widbiller Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie / Zahntraumazentrum, Universitätsklinikum Regensburg Franz-Josef-Strauß-Allee 11, 93053 Regensburg matthias.widbiller@klinik. uni-regensburg.de Foto: UKR Prof. Dr. med. dent. Gabriel Krastl Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie / Zahnunfallzentrum, Universitätsklinikum Würzburg Pleicherwall 2, 97070 Würzburg Foto: privat ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden.
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