zm115 Nr. 13, 01.07.2025, (1106) 32 | ZAHNMEDIZIN AUTOR DES FORTBILDUNGSBEITRAGS ZUR WISSENSCHAFTLICHE DEBATTE „Beschwerdefrei bedeutet nicht entzündungsfrei“ Lieber Herr Schwendicke, lieber Herr Herbst, vielen Dank für die Anmerkungen zu meinem Artikel. Ihre Hauptkritikpunkte lassen sich wie folgt zusammenfassen: Ich würde nicht hinreichend die evidenzbasierten, klinischen Erfolgsquoten der Studien berücksichtigen, die eine klinische Überlegenheit der selektiven Kariesexkavation nachweisen konnten. Vermutlich habe ich mich in dem Artikel zu undeutlich ausgedrückt, daher freue ich mich, hier noch einmal meine Überlegungen zur selektiven Kariesexkavation darstellen zu können. All diese von Herrn Schwendicke zitierten Studien sind mit Sicherheit sehr sorgfältig und mit großem wissenschaftlichem Engagement durchgeführt worden. Dies wird schon daran deutlich, dass die erwähnten Studien in hochrangigen internationalen Fachjournalen publiziert wurden. Insbesondere das von Schwendicke et al. [2021] verfasste Cochrane-Review zeugt von einem hohen wissenschaftlichen Anspruch. Das möchte ich auf gar keinen Fall in Zweifel ziehen. Das Problem all dieser klinischen Studien ist aber, dass nicht bekannt ist, wie der Zustand der Pulpa tatsächlich war. Dazu kann in einer solchen Studie selbstverständlich keine Aussage getroffen werden. Wir wissen aber, dass es keine gute Korrelation zwischen klinischer Beschwerdefreiheit und positivem Sensibilitätstest einerseits und dem tatsächlichen Zustand der Pulpa andererseits gibt. Das heißt, die Pulpa kann bakteriell infiziert sein, ohne dass dies vom Patienten bemerkt wird [Dammaschke 2025]. Die Genauigkeit und Reproduzierbarkeit klinischer diagnostischer Tests zur Beurteilung der Vitalität der Pulpa sind begrenzt oder sogar unzureichend. Es fehlt an verlässlichen Erkenntnissen, um den tatsächlichen Status der Pulpa klinisch zu bestimmen. Fundierte prognostische Indikatoren, die eine zuverlässige Abschätzung des Ergebnisses einer Behandlung der vitalen Pulpa ermöglichen, sind derzeit nicht verfügbar [Donnermeyer et al., 2023]. Diese Ergebnisse haben auch Eingang in die aktuellen S3-Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Endodontie (ESE) gefunden [Duncan et al., 2023]. Um den tatsächlichen Zustand der Pulpa zu beurteilen, muss man unter wissenschaftlichen Aspekten histologische Studien durchführen. Nur so können wir Sicherheit über das Behandlungsergebnis bekommen. Alle mir bekannten und in meinem Artikel zitierten histologischen Studien kommen zu dem eindeutigen Schluss, dass das Belassen von Karies über kurz oder lang zu einer irreversiblen Pulpitis führt [Dammaschke, 2025]. Diese Ergebnisse stützen sich dabei nicht nur auf zwölf Zähne der Studie von Ricucci et al. [2020]. Es gibt im Umkehrschluss bisher keine einzige Studie, die nachweisen konnte, dass die selektive Kariesexkavation NICHT zu pulpitischen Veränderungen führt. Solche histologischen Studien am Menschen durchzuführen, ist aber aufwändig und sie müssen auch immer unter einem ethischen Aspekt betrachtet werden, da die Zähne hierzu unweigerlich extrahiert werden müssen. Die Anzahl solcher Studien ist daher leider limitiert und wird es auch bleiben. Sie geben zu Recht an, dass die Patienten nach selektiver Kariesexkavation klinisch zu einem Großteil beschwerdefrei sind. Nur kann eine Beschwerdefreiheit unter medizinischen Aspekten nicht bedeuten, dass kein Behandlungsbedarf besteht. Typische Beispiele in der Zahnmedizin sind die Gingivitis und Parodontitis. Auch eine periapikale Parodontitis muss nicht zwingend mit Beschwerden verbunden sein. Lässt man sie daher unbehandelt? Denkt man an die Humanmedizin, könnte man etwas überspitzt formulieren, dass auch ein Bluthochdruck oder eine Diabetes nicht behandlungsbedürftig seien, da diese Erkrankungen, zumindest im Anfangsstadium, keine klinischen Beschwerden verursachen. Die Prof. Dr. Till Dammaschke Universität Münster, Poliklinik für Parodontologie und Zahnerhaltung Waldeyerstr. 30, 48149 Münster
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