GESELLSCHAFT | 49 Einschussloch in der Wange – „vermutlich ein Durchschuss, bei dem die Kugel aus dem Mund wieder ausgetreten ist, weil sie röntgenologisch nicht zu orten ist“, sagt Haesler. Sukzessive dechiffriert man die Sütterlinschrift: „Krankheitsbezeichnung: Zertrümmerungsfraktur“, dann das Zugangsdatum „6.9.1939“. Wie kamen die Kisten nach Zschadraß? Es war – wie so oft – ein Anruf, dieses Mal aus Halle im Jahr 2021. „Herr Haesler, jetzt schmeißen sie es weg!“ Aufgrund der Auflösung der Sammlung des Zentrums für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg musste auch der universitäre Nachlass von Prof. Erwin Reichenbach (1897–1973) neu geregelt werden. Womit wir bei einem der schillerndsten und bedeutendsten Zahnmediziner und Kieferchirurgen des vergangenen Jahrhunderts gelandet sind. Jener Reichenbach leistete im Zweiten Weltkrieg Kriegsdienst als Oberfeldarzt der Reserve. Auf der Website „catalogus professorum halensis“ steht ergänzend: „In dieser Zeit befasste er sich vor allem mit wiederherstellender plastischer Gesichtschirurgie.“ – was sich etwa in seinen Veröffentlichungen „Erste kieferchirurgische Erfahrungen aus dem Feldzug gegen Polen“ (1940) und „Ergebnisse frontnaher Wiederherstellungschirurgie bei Gesichtsverletzungen. Ergebnisse aus dem Einsatz an der Ostfront I“ (1942) widerspiegelt. Ausstellen oder einlagern? Hier könnte dieser Text zu Ende sein. Aber wenn Haesler im Dentalmuseum ein Reichenbach-Kabinett einrichten will, kommt er um mehr Biografie nicht herum. Dann muss er die komplette Vita des „doppelten Genossen“ (Enno Schwanke) erzählen – mit allen für die Zeit typischen Brüchen, Konflikten und Zwangslagen. Diese Aufgabe hat der Aachener Professor für Medizinethik und Medizingeschichte Dominik Groß so umrissen: Reichenbach gehört „zu den wenigen Fachvertretern, die sowohl im ‚Dritten Reich‘ als auch in der DDR eine ordentliche Professur erlangten. Überdies war er langjähriger Vizepräsident der Leopoldina – und damit ein exponierter Repräsentant der ostdeutschen Gelehrtengesellschaft. Doch während Reichenbachs Bedeutung als Wissenschaftler unbestritten ist, wird sein Verhältnis zum Nationalsozialismus, aber auch seine politische Rolle in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) höchst uneinheitlich beurteilt“. Das ist die Herausforderung. mb Im nächsten Teil geht es um heiße Luft. Und Hygiene. Bisher erschienen sind: zm 1-2/2025: Goodbye Amalgam! zm 3/2025: Wohin mit meinem Bohrer? zm 4/2025: „Wien hat’s nicht, Linz hat’s nicht, und Utrecht auch nicht“ zm 5/2025: Ein Lehrstück in plastischer Anatomie zm 6/2025: „Die wollte ich schon haben“ zm 7/2025: Zwei in eins – der Papageienschnabel zm 8/2025: „Das Bild wird einen Ehrenplatz bekommen“ zm 9/2025: Der Optimax – strahlend mundspülen zm 10/2025: Auf den Schultern von Riesen zm 11/2025: Für Zoologen: der Wattepellet-Igel zm 12/2025: Ich packe meinen Koffer zm 13/2025: Der Schädel der Schande zm 14/2025: „An einem Zahne stirbt man doch nicht“ zm 15-16/2025: Wie ein Dental-Detektiv MIT DEM DENTALMUSEUM DURCH2025 In jeder Ausgabe in diesem Kalenderjahr heben wir einen Schatz aus dem Dentalhistorischen Museum in Zschadraß und geben an den Exponaten entlang einen Einblick in die Geschichte der Zahnheilkunde. Nach der Aufnahme im Kriegslazarett Oppeln erstellter Röntgenbefund (Auszug aus dem Krankenblatt): „Die Röntgenaufnahme zeigt eine Zertrümmerungsfraktur des rechten Kieferwinkels und einen Geschosssplitter, der im linken Oberkiefer zu sitzen scheint.“ Fotos: zm-mb, Dentalmuseum zm115 Nr. 17, 01.09.2025, (1403)
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