Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 19

58 | ZAHNMEDIZIN zm115 Nr. 19, 01.10.2025, (1608) interdisziplinärer Absprache mit der Poliklinik für Kieferorthopädie wurde als Behandlungskonzept festgelegt: „ 1. Überkronung der Seitenzähne mit gleichzeitiger Bisshebung „ 2. Schienentherapie „ 3. Umstellungsosteotomie Die zu diesem Zeitpunkt seit fünf Jahren inserierten Frontzahnkronen zeigten Randverfärbungen sowie durch den Durchbruch entstandene Stufen zur natürlichen Zahnhartsubstanz (Abbildung 9). Diese wurden durch Sandstrahlen (CoJet, Solventum), anschließende Konditionierung mit einem Drei-Schritt-Etch-and-RinseSystem und Komposit (Filtek Supreme, Solventum; Tetric EvoFlow, Ivoclar Vivadent) korrigiert und abschließend poliert. Diskussion Die AI ist eine seltene hereditäre Erkrankung, die durch Mutationen in Genen verursacht wird, die für Proteine der Amelogenese codieren [Crawford et al., 2007]. Sie umfasst ein breites Spektrum klinischer Erscheinungsformen, die sich in Farbe, Oberflächenbeschaffenheit, Form und Härte des Zahnschmelzes unterscheiden. Dabei sind alle Zähne beider Dentitionen betroffen, wobei die Schmelzdefekte sowohl qualitativ als auch quantitativ variieren können. Traditionell erfolgt die Klassifikation der AI phänotypisch, basierend auf klinischen und radiologischen Befunden [Witkop, 1988]. Neben funktionellen Einschränkungen leiden Betroffene häufig unter ausgeprägten Hypersensibilitäten sowie ästhetischen Beeinträchtigungen. Diese Symptome können besonders im Kindes- und Jugendalter zu erheblichem psychosozialem Leidensdruck führen [Coffield et al., 2005]. Obwohl sich die beiden vorgestellten Fälle im Phänotyp unterscheiden, zeigten die Patienten vergleichbare subjektive Beschwerden sowie ähnliche objektive Befunde. Für präventive Maßnahmen bei AI liegen bislang kaum kontrollierte Studien mit gesunden Vergleichsgruppen vor. Daher stützen sich die aktuellen Empfehlungen vor allem auf allgemeine Fluoridierungsrichtlinien [DGZ und DGZMK, 2025]. Auch die Evidenzlage zur restaurativen Versorgung ist insgesamt begrenzt. Die meisten verfügbaren Studien basieren auf kleinen Fallzahlen oder kurzen Beobachtungszeiträumen, was sich vermutlich durch die niedrige Prävalenz der Erkrankung erklärt [DGKiZ et al., 2024]. Auch aus restaurativer Sicht stellt die AI eine besondere Herausforderung dar. Trotzdem stehen meist dieselben Materialien zur Verfügung wie bei Gesunden. Beide vorgestellten Patienten wurden mit direkten und/oder indirekten Kompositrestaurationen versorgt, durch die die Beschwerden gelindert werden konnten. Studien zeigen jedoch, dass solche Restaurationen bei AI eine geringere Langzeitstabilität aufweisen als bei gesunden Zähnen. Während bei Gesunden meist Sekundärkaries zum Versagen führt, sind es bei AI häufiger Frakturen oder ein Verlust der Adhäsion. Besonders anfällig sind hypokalzifizierte und hypomature Typen, während hypoplastische Typen stabilere Ergebnisse zeigen [Pousette Lundgren und Dahllöf, 2014]. Diese Unterschiede lassen sich durch die spezifische Mikromorphologie der betroffenen Zähne erklären. Zwar konnte bislang kein direkter Zusammenhang zwischen Phänooder Genotyp und Schmelzstruktur nachgewiesen werden [Bäckman et al., 1993], dennoch treten strukturelle Veränderungen des Schmelzes in unterschiedlicher Ausprägung auf. Dazu zählen unter anderem veränderte Kristallgrößen und -anordnungen, atypische Prismenformen bis hin zu amorphen Bereichen, verbreiterte interprismatische Räume sowie ein erhöhter Gehalt an organischem Material. Zudem ist die Mineralverteilung ungleichmäßig, mit teils stark hypomineralisierten und porösen Arealen [Batina et al., 2002; Qing et al., 2015]. Diese strukturellen Besonderheiten können zu einem veränderten Ätzmuster führen und so die mikromechanische Retention von Adhäsivsystemen beeinträchtigen. Im zweiten Fall kamen neben der klassischen Etch-and-Rinse-Technik auch 10-MDP-haltige Universaladhäsive zum Einsatz, die zusätzlich eine chemische Bindung an Calcium im Hydroxylapatit ermöglichen. Derzeit existieren jedoch keine vergleichenden klinischen Studien, die eine evidenzbasierte Auswahl des Adhäsivsystems bei AI erleichtern würden [Tekçe et al., 2022]. Während das Dentin an der Schmelz-Dentin-Grenze häufig hypermineralisiert ist und dadurch eine chemische Adhäsion begünstigen könnte, bietet der hypomineralisierte Schmelz möglicherweise weniger Bindungsstellen [Epasinghe und Yiu, 2018; Qing et al., 2015]. Neben der Verbesserung der Ästhetik im Frontzahnbereich dient die Versorgung der Seitenzähne auch dem Schutz der Kauflächen vor übermäßigem Verschleiß und soll einer Bisssenkung entgegenwirken. Aufgrund der eingeschränkten Erfolgsraten direkt adhäsiv befestigter Restaurationen sollten insbesondere bei AI alternative Versorgungsformen in Erwägung gezogen werden [Pousette Lundgren und Dahllöf, 2014]. Während im Fall 1 eine direkte Versorgung gewählt wurde, um diese später nach kieferorthopädischkieferchirurgischer Therapie durch indirekte Restaurationen zu ersetzen, erfolgte im zweiten Fall bereits im Wechselgebiss eine indirekte Versorgung der Front- und Seitenzähne. Studien zeigen, dass indirekte Restaurationen insgesamt höhere Überlebensraten aufweisen [Ohrvik und Hjortsjö, 2020; Pousette Lundgren und Dahllöf, 2014]. Dies ist unter anderem auf die eingeschränkte Haftung rein adhäsiv verankerter Restaurationen zurückzuführen. Der pathologisch veränderte Schmelz zeigt nämlich ein verändertes Ätzverhalten, während das Dentin bei AI häufig hypermineralisiert und sklerotisch ist. Außerdem kann der erforderliche Substanzabtrag insbesondere bei hypoplastischen AI-Typen oder bereits abgenutzten Zähnen gering gehalten werden, wobei das veränderte Dentin zusätzlich vor einem Präparationstrauma schützen könnte [Epasinghe und Yiu, 2018]. ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden.

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