POLITIK | 75 Wahrscheinlicher sei, dass ein Zusammenwirken eines „postpandemisch höheren Infektionsgeschehens“ mit einer erhöhten Erfassungsrate von AUBescheinigungen seit der Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) zu einem Anstieg der AU-Raten seit 2021 geführt hat. So habe die Zi-Untersuchung gezeigt, dass 58 Prozent der zusätzlichen AU-Fälle von 2022 und 41 Prozent der zusätzlichen AU-Fälle von 2023 durch akute Infektionen der Atemwege und Corona-Infektionen zu erklären sind. Eine Maßnahme zur Entbürokratisierung Für Dr. Eckart Lummert, niedergelassener Facharzt für Allgemeinmedizin und Vorsitzender der Vertreterversammlung der KV Niedersachsen ist die Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung bei Patienten ohne schwere Symptomatik eine wichtige Maßnahme zur Entbürokratisierung und Entlastung der Praxen. Dies gelte auch für den erweiterten Infektionsschutz in den Wartezimmern der Arztpraxen, wenn sich atemwegserkrankte Patienten nicht persönlich vorstellen müssen. Insofern müsse an der telefonischen AU unbedingt festgehalten werden. Gleichwohl seien auch die niedergelassenen Hausärztinnen und Hausärzte gefordert, ihre Krankschreibungspraxis mit Bedacht zu differenzieren, so Lummert weiter. Insbesondere in den sehr wenigen Fällen, in denen Patientinnen und Patienten etwa für einen längeren Zeitraum krankgeschrieben werden wollten. Bei Verdachtsfällen bestelle er diese immer zu einer persönlichen Untersuchung in seine Hausarztpraxis ein. Das stärke die Vertrauenskultur und vermeide gefühlte Gerechtigkeitsprobleme. Die große Mehrheit der Patientinnen und Patienten sei in den Hausarztpraxen aber persönlich bekannt, das gegenseitige Vertrauensverhältnis verhindere den Missbrauch der Tele-AU also per se, so Lummert. Zur konsistenten Patientensteuerung Ein Missbrauch der telefonischen Krankschreibung sei auch wegen fehlender Kennzeichnung nicht belegbar, weshalb die immer wieder erhobene Forderung nach Aufhebung der entsprechenden Regelungen wegen vermeintlichen Missbrauchs ins Leere laufe, bekräftigte Anne-Kathrin Klemm, Alleinvorständin des BKK Dachverbandes. Bevor man also die Telefon-AU abschafft, müsse zunächst Transparenz über Ursache und Wirkung hergestellt werden. Die Telefon-AU entlaste Arztpraxen und Personal. In Ergänzung dazu sei die digitale Ersteinschätzung ein weiteres zentrales Element für eine konsistente Patientensteuerung, um Effizienzreserven im Gesundheitssystem zu heben und die Arztpraxen weiter zu entlasten. Ein nachweislich erhöhtes Infektionsgeschehen bei den Atemwegserkrankungen könne jedenfalls durch die Aufhebung der erfolgreich etablierten Regelungen zur Krankschreibung nicht kaschiert werden, urteilte Klemm. Die Corona-Pandemie habe die Sensibilität der Beschäftigten für Krankheitssymptome geschärft, so dass sie sich bei ersten Anzeichen schneller krankschreiben ließen, auch um Kolleginnen und Kollegen bei der Arbeit zu schützen. Dies zu kritisieren, sei fragwürdig. Eine ausufernde Misstrauenskultur müsse durch eine innerbetriebliche Vertrauenskultur abgelöst werden, die durch gegenseitige Wertschätzung und Verlässlichkeit bestimmt sei. Hier stehe ausdrücklich auch der Arbeitgeber in der Verantwortung, so Klemm weiter. Besteht eine potenzielle Missbrauchsgefahr? Dr. Susanne Wagenmann, Leiterin der Abteilung Soziale Sicherung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), hob hingegen hervor, dass sich die Arbeitgeber auch aufgrund der enorm hohen Kosten, die ihnen durch die Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall entstünden, auf den hohen Beweiswert und die medizinische Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen unbedingt verlassen können müssten. Alleine im Jahr 2024 seien den Arbeitgebern dadurch Kosten in Höhe von insgesamt 82 Milliarden Euro entstanden. Der „Goldstandard der Krankschreibung“ müsse weiterhin der persönliche Arzt-Patientenkontakt bleiben, wahlweiseergänztdurchdieärztlicheVideosprechstunde, forderte Wagenmann. Die telefonische AU müsse wegen der potenziellen Missbrauchsgefahr abgeschafft werden, ebenso sämtliche Möglichkeiten der unpersönlichen Krankschreibung über Online-Portale. Denn: Nach aktuellen Umfragen von Krankenkassen ließen sich acht und mehr Prozent der Beschäftigten ohne triftigen Grund krankschreiben. Um diese Anteile weiter zu senken und damit die hohen Arbeitskosten zu reduzieren, sei es auch für die gesellschaftliche Akzeptanz wichtig, etwaige Fehlanreize wirksam zu beseitigen, so Wagenmann abschließend. mg zm115 Nr. 20, 16.10.2025, (1721) EXPERTENMEINUNGEN ZUM NACHHÖREN Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) hatte am 1. Oktober im Rahmen seines etwa vierteljährlichen Livestreaming-Formats „Zi insights“die Analyse der möglichen Ursachen für die stark angestiegene Zahl der Arbeitsunfähigkeitsmeldungen vorgestellt und mit Expertinnen und Experten aus Arbeitgeberverbänden, Betriebskrankenkassen und vertragsärztlicher Praxis diskutiert. Einen 59-minütigen Mitschnitt des Livestreams zum ausführlichen Nachhören bietet das Zi auf seiner Website. „Die Bedeutung der TeleAU an allen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ist für die Gesamtentwicklung der AU-Fälle sehr gering." aus der Zi-Analyse
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