EDITORIAL | 3 Sie werden fehlen sein Schicksal in die Hand nahm, kann nur tiefsten Respekt abnötigen. 1946 fing er in Göttingen – im Land der Täter – an, in einer fremden Sprache Medizin zu studieren, und das, obwohl er nur sechs Jahre die Schule besucht hatte. Im Anschluss ging er dann mit seiner deutschen Frau zurück nach Polen, wo er als Gynäkologe arbeitete. Wieder zunehmendem Antisemitismus ausgesetzt siedelte er 1969 nach Schweden über, wo er bis heute lebt. Menschen wie Leon Weintraub oder die kürzlich verstorbene Margot Friedländer, gerne etwas verharmlosend „Zeitzeugen“ genannt, sind unendlich wichtige Stimmen, die aus eigenem Erleben erklären können, wohin ideologischer Hass führt. Leider werden es immer weniger. Sie werden fehlen. Dies auch deshalb, weil es hier nicht um eine längst vergangene Zeit geht, sondern weil der Antisemitismus in Deutschland in jüngster Zeit auf erschreckende Weise wieder erwacht: Von rechts, von links, aus dem Islam oder einfach nur aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Deswegen müssen solche Gedenkveranstaltungen uns allen Mahnung sein, sich dagegen zu stellen, wo es nötig ist. Viel Spaß bei der Lektüre Sascha Rudat Chefredakteur Das Ambiente war festlich, der Anlass beleuchtete hingegen das düsterste Kapitel der deutschen Zahnmedizin. Am 29. Oktober hatten die Bundeszahnärztekammer, die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung und die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde zu einer Gedenkveranstaltung zur Zahnmedizin im Nationalsozialismus in den Festsaal der Berliner Humboldt-Uni eingeladen. Vorausgegangen war eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung der Verstrickungen der Zahnärzteschaft mit dem NS-Regime, die zwischen 2017 und 2019 durchgeführt worden war. Über die Ergebnisse haben wir in den zm auch in der Serie „Täter und Opfer“ ausführlich berichtet. Nach den Pandemie-bedingten Einschränkungen hatte man die Gedenkveranstaltung auf das Jahr 2025, also 80 Jahre nach Kriegsende, gelegt. 80 Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur sind eine lange Zeit, um sich der Vergangenheit zu stellen. Der Medizinhistoriker Dominik Groß erläuterte in seinem Vortrag sehr anschaulich, warum die Zahnärzteschaft so lange gebraucht hat, die Vergangenheit aufzuarbeiten. So wurde lange Zeit die eigene Rolle – auch gegenüber der Ärzteschaft – heruntergespielt. Man war ja nur für den Mundraum zuständig, so das gängige Narrativ. Hinzu kam, dass viele der Standesvertreter und Hochschullehrer, die nach dem Krieg in Amt und Würden waren, mit dem NS-Regime verstrickt gewesen waren. Das Interesse an Aufarbeitung hielt sich in Grenzen. Rund die Hälfte der deutschen Zahnärztinnen und Zahnärzte war Mitglied der NSDAP, wissen wir heute. Der ausgezeichnete Vortrag von Dominik Groß, der einen Teil der Ergebnisse seiner Forschungsarbeit vorstellte, war wichtig. Aber ebenso wichtig ist es, sich auf die individuelle Ebene zu fokussieren, um wirklich verstehen zu können, was es bedeutet, Opfer eines menschenverachtenden und mörderischen Regimes zu werden. Deswegen war es ein großer Glücksfall, dass der 99-jährige jüdische Arzt Dr. Leon Weintraub mit seiner Frau aus Stockholm zu der Gedenkveranstaltung angereist war. Weintraub wuchs als eines von fünf Kindern im polnischen Lodz auf, wo seine alleinerziehende Mutter eine kleine Wäscherei betrieb. Mit 13 Jahren erlebte er den Einmarsch der deutschen Wehrmacht in seine Heimatstadt und wurde 1940 mit seiner Familie ins Ghetto Litzmannstadt umgesiedelt. Weintraub berichtete von den Gräueltaten, die er als Jugendlicher miterleben musste, mit klaren, ruhigen und eindringlichen Worten. Mit seiner Familie wurde er 1944 nach Auschwitz-Birkenau deportiert, von wo er durch einen glücklichen Zufall in einen Gefangenentransport gelangte, der ihn in zwei weitere KZ führte. Glücklich deshalb, weil er andernfalls in der Gaskammer gelandet wäre. Bei einer weiteren Verlegung gelang ihm kurz vor Kriegsende die Flucht. Wie er danach Foto: Lopata/axentis
RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=