Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 03

zm 108, Nr. 3, 1.2.2018, (205) realisieren war. Letztere reagierte zunächst ablehnend, gab jedoch letztlich nach. Jessen bat Architekten um entsprechende Baupläne, schmiedete vielfältige Allianzen und fand am Ende eine Mehrheit: Am 15. Oktober 1902 nahm die erste städtische Schulzahnklinik in Deutschland – und eine der ersten Schulzahnpflegestätten der Welt – mit Jessen als Direktor ihren Betrieb auf. Die Räume der in der Elisabethgasse 12 angesiedelten Klinik wurden von der Universität gestellt, für Umbauten und Einrichtungen standen 2.500 Mark zur Verfügung und der Jahresetat der Klinik belief sich auf 2.750 Mark, wovon 2.000 Mark als Gehalt für einen Assistenten verausgabt wurden [Einfeldt, 1959]. Jessens Ziele waren ambitioniert: Neben der regelmäßigen Untersuchung und Früh- behandlung aller Volksschulkinder versuchte er auch die Kinder aus den Kindergärten ein- zubeziehen – damit nahm er die zentralen Ziele der modernen Jugendzahnpflege und Kinderzahnheilkunde vorweg. Tatsache ist, dass Jessen seine schulzahnärztlichen Unter- suchungen akribisch dokumentierte und in Form von Jahresberichten veröffentlichte. Bereits im August 1903 gab er seinen ersten statistischen Bericht zum Patientenaufkommen der Schulzahnklinik heraus. Demnach waren 5.343 Kinder in der betreffenden Klinik unter- sucht und 2.666 nachfolgend behandelt worden [Einfeldt, 1959; Holzhauer, 1962]. Rasch entfaltete Jessen umfassende Aktivitä- ten, um sein System der Schulzahnpflege deutschlandweit zu etablieren. Tatsächlich richtete der CVdZ 1902 eine „Zahnhygie- nische Kommission“ ein, der auch Jessen an- gehörte. Bis zum Ausbruch des Ersten Welt- kriegs wuchs die Zahl der Schulzahnpflege- stätten in Deutschland auf 219 [Groß, 1994 und 1999]. Für Jessens universitäre Karrierepläne erwies sich die intensive Beschäftigung mit der Schulzahnpflege allerdings als nachteilig. Er litt zudem unter den unbefriedigenden fi- nanziellen und räumlichen Rahmenbedin- gungen seiner Lehrtätigkeit, so dass er den Dienst an der Universität 1902 quittierte. 1904 erhielt er in Anerkennung seiner Ver- dienste eine Titularprofessur. Hierzu hieß es in der „Straßburger Post“ am 21. Dezember 1904: „Der Direktor der städtischen Schul- zahnklinik, Dr. med. Ernst Jessen, ist der erste Zahnarzt unseres Landes, der vom kaiser- lichen Statthalter durch Verleihung des Pro- fessorenprädikates ausgezeichnet worden ist. Er war seiner Zeit auch der erste, der sich als Privatdozent für Zahnheilkunde bei der Kaiser-Wilhelm-Universität in Straßburg habilitierte“ [Einfeldt, 1959]. ... für Schul- und Kindergartenkinder Ebenfalls 1904 wurde Jessens Schulzahnklinik durch die „Louisiana Purchase Exposition“ – die historische Weltausstellung, die vom 30. April bis zum 1. Dezember 1904 in St. Louis im amerikanischen Bundesstaat Missouri stattfand – weltweit bekannt: Auf Vermitt- lung der deutschen Reichsregierung waren dort Bilder der Straßburger Schulzahnklinik ausgestellt und um aussagekräftige Fach- literatur ergänzt worden. Der Erfolg war durchschlagend: Sowohl die Schulzahnklinik wie auch die Autoren des dort vorgestellten Fachbuchs „Zahnhygiene in Schule und Heer“ wurden mit der Goldenen beziehungsweise Silbernen Medaille der Weltausstellung ge- ehrt [Jessen/Loos/Schlaeger, 1904]. Im be- sagten Buchband wurden die Notwendig- keit und die Rahmenbedingungen einer planmäßigen Zahnpflege für die gesamte Bevölkerung erläutert [Einfeldt, 1959]. 1909 leitete Jessen die „Hygienesektion“ des 5. Internationalen Zahnärztekongresses in Berlin, und im selben Jahr wurde ihm der Vorsitz der ständigen „Hygiene-Kommission“ der „Fédération Dentaire Internationale“ (FDI) übertragen – ein ehrenvolles Amt, das er bis 1929 ausüben sollte. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte Jessen seine erfolgreiche Arbeit für die FDI und die internationale Zahnärzteschaft fort. Sie wurde gekrönt durch die Ehrendoktorwürde der Universität Pennsylvania („Dr. jur. h. c.“), die ihm 1926 im Rahmen des 7. Internationalen Zahnärzte- kongresses in Philadelphia verliehen wurde. Daneben war Jessen Ehrenmitglied des „Deutschen Zentralkomitees für Zahnpflege in den Schulen“ [Einfeldt, 1959]. Jessen starb am 18. September 1933 in einem Krankenhaus in Freiburg im Breisgau [Einfeldt, 1959]. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Schulzahnpflegesystem seinen Höhepunkt bereits überschritten: Während 1929 mehr als 1.000 Schulzahnpflegeeinrichtungen in 822 Städten bestanden, war bereits 1932 „eine geregelte Schulzahnpflege [...] aus wirtschaftlichen Gründen kaum mehr mög- lich“ und in den folgenden Jahrzehnten sollte sich dieser Abwärtstrend weiter fort- setzen [Kirchhoff/Heidel, 2016]. Jessen hinterließ zahlreiche Schriften zur Schulzahnpflege, wobei den Arbeiten „Zahnhygiene in Schule und Haus“ und „Zahnhygiene in Schule und Heer“ beson- dere Bedeutung zukam [Jessen, 1903; Jessen/ Loos/Schlaeger, 1904]. Ähnliches gilt für sein „Lehrbuch der praktischen Zahnheilkunde“ und die historisch bedeutsame „Denkschrift für die Errichtung eines zahnärztlichen Instituts an der Kaiser-Wilhelm-Universität Strassburg“ [Jessen, 1890 und 1902]. 1931 wurde Jessen erster Träger des neu etablierten „Jessen-Preises“ für herausragende Arbeiten auf dem Gebiet der Jugendzahn- pflege [Einfeldt, 1959]. Der Preis sollte alle zwei Jahre verliehen werden, hatte jedoch nur kurzzeitig Bestand. Eine andere – posthume – Ehrung erwies sich demgegenüber als nach- haltig: Nach ihm wurde 1959 in Flensburg- Twedt der Ernst-Jessen-Weg benannt, der von Windloch nach Twedt führt. Univ.-Prof. Dr. mult. Dominik Groß Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät RWTH Aachen University, MTI II Wendlingweg 2, 52074 Aachen dgross@ukaachen.de Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden. 85

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