Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 07

zm 108, Nr. 7, 1.4.2018, (735) überdeutlich geworden, dass er in Deutsch- land keine Zukunft hatte. Vor diesem Hinter- grund lotete Kantorowicz die Möglichkeit einer Emigration aus. Die in Zürich etablierte „Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland“ unterhielt Kontakte nach Istan- bul. Hier fand Kantorowicz Hilfe: Er erhielt eine Einladung der türkischen Botschaft in Berlin nach Istanbul, die mit einer konkreten beruflichen Perspektive, der Übernahme eines Ordinariats an der dortigen Universität, ver- knüpft war. Kantorowicz konnte emigrieren und bekleidete den besagten Lehrstuhl an der Zahnärztlichen Hochschule in Istanbul von 1934 bis zu seiner Emeritierung 1948 [Doyum, 1985; Depmer, 1993; Litten, 2016]. Karriere, KZ und späte Rehabilitation Während sich Kantorowicz in der Türkei um die Förderung der sozialen Zahnheilkunde und die Ausbildung der Zahnärzteschaft ver- dient machte, wurde sein System der Jugend- zahnpflege in Deutschland widerstandslos zerschlagen. Erst nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ bot sich Kantorowicz die Möglichkeit zur Rückkehr. Tatsächlich er- reichte ihn 1946 – kurz vor der mit 68 Jahren anstehenden Emeritierung – ein Angebot der Universität Bonn, in seine alte Funktion als Ordinarius einzutreten. Doch Kantorowicz lehnte ab – zum einen aus gesundheitlichen Gründen, zum anderen aus Angst vor den antisemitischen Tendenzen in Deutschland [Kirchhoff, 2009; Litten, 2016]. Erst 1950 remigrierte er und wurde wieder in Bonn ansässig. Hier bestellte ihn der Sozialminister des Landes Nordrhein-Westfalen zum „Fach- berater für Fragen der Schulzahnpflege“ – eine Funktion, die Kantorowicz bis 1956 wahrnahm. Außerdem übernahm er an der Bonner Klinik einen Lehrauftrag. 1955 ver- lieh ihm die Universität Bonn unter dem Dekanat von Gustav Korkhaus nun den humanmedizinischen Ehrendoktortitel („Dr. med. h. c.“) [Depmer, 1993] und im selben Jahr wurde er Ehrenmitglied der DGZMK [Groß/Schäfer, 2009]. Ungeachtet dieser späten Rehabilitation zeigte sich Kantorowicz von der Situation der Zahnheilkunde in Deutschland, insbesondere vom Stellenwert der Schulzahnpflege, ent- täuscht. Er konstatierte 1957: „Die zahnärzt- liche Tätigkeit beschränkt sich auf die Fest- stellung, ob in einem Zahn eine Sonde hakt und ist damit zu einer Karikatur einer Berufs- ausübung geworden, die ein fast 6-jähriges Studium voraussetzt [...] Ich würde es ab- lehnen, aus dem Herumstochern mit einer Sonde, um ein Loch in einer Fissur zu finden, eine selbständige Disziplin zu machen“ [Kirchhoff, 2009]. Kantorowicz starb am 6. März 1962 im Alter von 81 Jahren in Bonn. Zu seinen be- kanntesten Schülern zählten Karl Friedrich Schmidhuber (1895–1967), der von 1955 bis 1957 als Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln wirkte, und der vor- genannte Gustav Korkhaus (1895–1978). Obwohl Korkhaus nationalkonservativ ein- gestellt war (und später als Nationalsozialist auftrat), hatte Kantorowicz 1927 dessen Er- nennung zum Abteilungsleiter im Fach Ortho- dontie erwirkt. 1946 zeigte sich Kantorowicz erneut großzügig: Als ihm die Bonner Fakultät eine Rückkehr auf sein früheres Ordinariat anbot, schlug Kantorowicz an seiner statt den gerade „entnazifizierten“ Korkhaus für diese Position vor. In der Tat wurde Korkhaus 1948 auf den Lehrstuhl und das Direktorat der Bonner Zahnklinik berufen [Häussermann, 2009; Kirchhoff, 2009; Litten, 2016]. Der Name Alfred Kantorowicz ist eng verbun- den mit der Entwicklung einer systematischen Jugendzahnpflege. Er gilt als Initiator der zahn- ärztlichen Prophylaxe und Frühbehandlung und als Vertreter einer sozialen Zahnheilkunde. Sein Konzept der Schulzahnpflege („Bonner System“) mit den automobilen Zahnstationen wurde zu einem international erfolgreichen Modell. Seine Durchschlagskraft verdankte Kantorowicz nicht nur seinem fachlichen An- sehen, sondern auch der Tatsache, dass er in den 1920er-Jahren als sozialdemokratisches Stadtratsmitglied einigen Gestaltungsspiel- raum besaß. So erreichte er unter anderem, dass die primär dem Zahnärztlichen Institut angegliederte Schulzahnklinik 1927 von der Stadt Bonn übernommen werden konnte. Kantorowicz’ Maßnahmen zeigten rasch Er- folg: Sowohl die kindliche Rachitits- als auch die Kariesinzidenz konnten bis zum Ende der 1920er-Jahre drastisch gesenkt werden. Ähnlich prägend wurde seine frühe Beschäf- tigung mit der Kieferorthopädie („Bonner Schule“); hier befasste er sich insbesondere mit den Ursachen sowie mit der Diagnostik und Therapie von Kiefer- und Zahnfehlstel- lungen [Doyum, 1985; Litten, 2016]. Forsbach [2006] zufolge wird „keine der Bonner Kliniken und medizinischen Institute [...] so sehr mit dem Namen eines Hoch- schullehrers in Verbindung gebracht wie die Bonner Zahnklinik“. Auch der Zahnmedizin in Istanbul und der gesamten Türkei konnte Kantorowicz wichtige Impulse verleihen – ein Sachverhalt, der auch dazu führte, dass die Istanbuler Medizinische Bibliothek nach ihm benannt wurde [Kirchhoff, 2010]. Schließlich machte Kantorowicz als wissen- schaftlicher Autor von sich reden: Zu seinen wichtigsten Schriften zählen die in drei Auf- lagen erschienene „Klinische Zahnheilkunde“ [Kantorowicz, 1924], das von ihm heraus- gegebene vierbändige „Handwörterbuch der gesamten Zahnheilkunde“ [Kantorowicz, 1929–1931], die „Planmässige orthodontische Fürsorge“ [Kantorowicz, 1928] und das „Re- petitorium der klinischen Zahnheilkunde“ [Kantorowicz, 1949]. Von besonderem historischem Interesse sind schließlich auch die persönlichen Briefe und Selbstzeugnisse [Doyum, 1985; Mettenleiter, 2003]. Univ.-Prof. Dr. mult. Dominik Groß Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Medizinische Fakultät RWTH Aachen University MTI II, Wendlingweg 2, 52074 Aachen dgross@ukaachen.de Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden. 103

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