Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 10

zm 108, Nr. 10, 16.5.2018, (1075) Ähnlich wie Georg Axhausen [zm 5/2018] sprach sich Rosenthal im „Dritten Reich“ mehrfach gegen Zwangssterilisationen von Patienten mit (erblicher) Lippen-Kiefer- Gaumenspalte aus – im Gegensatz zu Mar- tin Waßmund, der im Sinne der NS-„Rassen- hygiene“ für derartige Zwangsmaßnahmen eintrat [Thieme, 2012; Rosenthal, 1935]. Nach 1945 formulierte Rosenthal explizit Ansprüche auf eine ordentliche Professur. Wohl um seine Karrierechancen in der Sowjetzone nicht zu gefährden, behauptete er, nie Mitglied der NSDAP gewesen zu sein. Zudem machte er sich im Rahmen eines Berufungsverfahrens zwei Jahre jünger – immerhin hatte er bei Kriegsende das 60. Lebensjahr bereits überschritten. Auch trat er rasch in die SPD ein; nach der Zwangs- vereinigung von SPD und KPD wurde er so 1946 Mitglied der SED [Müller, 1992]. Mit der Annahme des Rufes an die Berliner Humboldt-Universität im Mai 1950 rückte Rosenthal – 67-jährig – in die Riege der Ordi- narien auf; seine Tätigkeit in Thallwitz durfte er in Teilzeit weiterführen [Müller, 1992; Groß et al., 2018]. Es folgte eine Phase breiter fach- licher Anerkennung: 1951 wurde Rosenthal Ehrenmitglied der „American Cleft Palate Association“, die DDR verlieh ihm den Titel „Verdienter Arzt des Volkes“, 1955 folgte der „Nationalpreis der DDR“. Im selben Jahr wurde er zudem in die „Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina“ aufgenom- men [Müller, 1992; Groß et al., 2018]. Auch seine Karriere an der Universität in Ber- lin erreichte in diesen Jahren einen späten Höhepunkt: 1951 wurde er Prodekan der Medizinischen Fakultät, 1952 Dekan. Die Universität Leipzig verlieh ihm ein Ehren- doktorat, und im Juli 1952 wurde Rosenthal zum ersten Vorsitzenden der „Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde“ er- nannt [Müller, 1992; Groß et al., 2018]. Zeitgleich kamen indes Hinweise auf, dass Rosenthal sich „nicht parteikonform“ verhalte. Offenbar waren ihm fachliche Gesichts- punkte wichtiger als Linientreue. Aufgrund anhaltender Differenzen schied er schließlich im April 1956 aus allen Ämtern der Humboldt- Universität aus. 1957 wurde er offiziell eme- ritiert [Müller, 1992]. Dagegen blieb er in Thallwitz auch nach seiner Emeritierung als Ärztlicher Direktor tätig. Letztere wurde später in „Wolfgang-Rosenthal-Klinik“ umbenannt. Rosenthal trat zudem über viele Jahre als Solosänger und als Mitglied des „Rosenthal- Quartetts“ hervor. Er erreichte hierbei einen beachtlichen Bekanntheitsgrad [Augner, 1991; Müller, 1992; Ackermann, 2008]. Rosenthal starb am 10. Juni 1971 in Berlin an den Folgen einer Oberschenkelfraktur [Augner, 1991; Ackermann, 2008]. Mehr Lebensqualität für die MKG-Patienten Sein Vermächtnis betrifft vor allem den Be- reich der Kiefer- und Gesichtstraumatologie und das Gebiet der Spaltchirurgie. Bereits im Ersten Weltkrieg hatte Rosenthal die Lebens- qualität von Tausenden von Kiefer- und Ge- sichtsverletzten verbessern können und mehr als 100 Knochentransplantationen durchge- führt [Ackermann, 2008]. 1916 beschrieb er zudem ein neues Verfahren zur Neurotisation der mimischen Gesichtsmuskulatur bei Fazialis- lähmungen mithilfe von trigeminusversorgter Kaumuskulatur. Er entwickelte auch eine (bald international etablierte) Variante der „Pharynx- plastik“, die bei postdiphterischen Lähmungen, Verletzungen oder Gaumen-Segel-Rachen- Fehlbildungen angewendet wird: Hierbei bildete er aus der Rachenhinterwand einen gestielten Schleimhautmuskellappen und nähte diesen mit dem Ziel einer muskulären Neurotisation in das insuffiziente Gaumen- segel ein. In seiner Habilitationsschrift über die „Erfahrungen auf dem Gebiete der Urano- plastik“ [Rosenthal, 1917] beschrieb er die sogenannte „Spaltausfüllung“, die später bei kongenitalen und bei erworbenen Gaumen- defekten zum Einsatz kam. Im „Lehrbuch der Mund- und Kieferchirurgie“ [Sonntag/ Rosenthal, 1930] dokumentierte er eine bereits 1927 durchgeführte Unterkieferdis- traktion – ein Verfahren, das Ende des 20. Jahrhunderts als Innovation der Dysgnathie- Chirurgie „wiederentdeckt“ wurde. Rosenthal gehörte zudem zu den ersten Spaltchirurgen, die für eine systematische logopädische und otologische Begleittherapie eintraten. Bekannt- heit erlangte auch der „Rosenthalsperrer“, ein Instrument, das er gemeinsam mit der Ulmer Firma Ulrich zur besseren Übersicht über die Mund-, Nasen- und Rachenhöhle entwickelte [Ackermann, 2008]. 1951 wurde Rosenthal Herausgeber der Zeit- schrift „Deutsche Stomatologie“. Nun er- schien auch sein Lehrbuch „Spezielle Zahn-, Kiefer- und Gesichtschirurgie“, das mehrfach aufgelegt wurde [Rosenthal, 1951]. Rosenthal überzeugte auch als Hochschul- lehrer [Gabka/Wagner, 1995] und brachte sich in die Berufspolitik ein: An der Aufhebung des Dentisten-Berufs und der Schaffung eines zahnärztlichen Einheitsstandes in der DDR war er maßgeblich beteiligt. Auf die zahn- ärztliche Studienreform nahm er ebenfalls starken Einfluss. Er sprach sich für eine breite allgemeinmedizinische Grundausbildung aus, um die Akzeptanz der Zahnheilkunde als gleichwertiges Fach neben der Medizin zu fördern [Gabka/Wagner, 1995]. Neben alldem entfachte Rosenthal einen nahezu beispiellosen Nachruhm: 1962 war er zum Ehrenbürger der Gemeinde Thallwitz ernannt worden. 1968 wurde der „Wolfgang- Rosenthal-Preis“ der „Gesellschaft für Stomato- logie der DDR“ ins Leben gerufen [Künzel, 2010]. Schließlich trägt die 1981 in Hütten- berg (Hessen) gegründete Selbsthilfeverei- nigung für Betroffene und Angehörige von Menschen mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten seinen Namen [Wolfgang-Rosenthal-Gesell- schaft, 2017]. Univ.-Prof. Dr. mult. Dominik Groß Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät RWTH Aachen University, MTI II Wendlingweg 2, 52074 Aachen dgross@ukaachen.de Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden. 51

RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=