Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 14

zm 108, Nr. 14, 16.7.2018, (1683) 1966; Riemer, 2005]. Das Arbeitspensum von Schuchardt blieb in der Folge ungebrochen: Zwölf Jahre leitete er unter widrigsten (Nach- kriegs-)Bedingungen beide vorgenannten Hamburger Kliniken, bis 1957 ein moderner Neubau im Universitätskrankenhaus Eppen- dorf eingeweiht werden konnte. Auch privat hatte sich zwischenzeitlich Vieles zum Guten gewandt: 1949 heirateten er und Eva Ries ein zweites Mal – diesmal in Smith- town, USA – und 1952 kehrte seine Ehefrau nach Hamburg zurück [Riemer, 2005]. Auch in den 1960er-Jahren blieb Schuchardt der Erfolg treu: 1965 erfolgte seine Wahl in den Wissenschaftlichen Beirat der Bundes- ärztekammer und 1969 wurde er Erster Vor- sitzender der „Deutschen Gesellschaft für Plastische und Wiederherstellungschirurgie“ (DGPW). Die Laudationes zu Schuchardts 65. und 70. Geburtstag belegen seine breite fachliche Anerkennung [Naujoks, 1966; Reichenbach/Fröhlich, 1966; Müller, 1972]. 1970 erfolgte Schuchardts Emeritierung; allerdings blieb er noch fünf Jahre in eigener Praxis in Hamburg (operativ) tätig (1970–1975). Schuchardt verstarb am 5. April 1985 in Hamburg [Krohn, 1985; Pfeifer, 1985]. Ein Überlebenskünstler in dunklen Zeiten Schuchardt hatte den Ruf eines rhetorisch begabten und humorigen Referenten [Pfeifer, 1977]. Aber er war auch ein „Überlebens- künstler“: Er schaffte es, in dunkler Zeit das Leben seiner Familie zu schützen und sich selbst vor dem beruflichen Aus zu bewahren. Seine Strategien bestanden dabei in der offiziellen Distanzierung zu seiner jüdischen Ehefrau und in der Etablierung eines persön- lichen Netzwerks, das sich in heiklen Situa- tionen als tragfähig erwies: So konnte bei der Emigration seiner Familie ein Freund namens Alfred Ferber, der auf einem Schiff der Ham- burg-Amerika-Linie als Erster Schiffsarzt ar- beitete, weiterhelfen [Riemer, 2005]. Auch Schuchardts Habilitation gelang nur dank gewichtiger Fürsprache: Im Januar 1941 war es zum Stopp des Habilitationsverfahrens gekommen und die bereits vereinbarte Probevorlesung ausgesetzt worden: Der NS- Dozentenführer Wather M. Schering hatte es für unvertretbar gehalten, Schuchardt zum Beamten zu berufen, weil dieser mit einer „Jüdin“ verheiratet gewesen sei. In dieser Situation ergriff der Dekan Partei für Schuchardt, indem er argumentierte, dass eine Habilitation nicht mit einer Verbeamtung verknüpft sei und Schuchardt als Stabsarzt hervorragende militärische Dienste leiste. Schering lenkte ein und Schuchardt konnte die Habilitation abschließen [Riemer, 2005]. Auch ein Nationalsozialist aus der direkten Führungsriege wurde zu Schuchardts Gön- nern: NS-Reichsmarschall Hermann Göring (1893–1946) zählte zu seinen Patienten – wie dessen Ehefrau Emmy (1893–1973) und Magda Goebbels (1901–1945), die Frau des NS-Propagandaministers Joseph Goebbels (1897–1945). Hoffmann-Axthelm [1990] zufolge hatte Schuchardt Göring vor der ersten Behandlung eröffnet, dass er kein Nationalsozialist sei, worauf Göring geant- wortet habe, er benötige keinen Parteigänger, sondern einen guten Behandler. Dass Göring Schuchardt zugetan war, ergibt sich aus der Tatsache, dass er ihm den Professorentitel antrug. Schuchardt gelang es jedoch ihm mithilfe eines gemeinsamen Bekannten be- greiflich zu machen, dass ein „geschenkter“ Professorentitel der wissenschaftlichen Lauf- bahn abträglich sei. Im Nachkriegsdeutschland trat Schuchardt bald nicht nur als Klinikchef und Hochschul- lehrer, sondern auch als Standespolitiker auf: Er setzte sich für die Aufhebung der dentistischen Berufsgruppe und für die Etablierung eines zahnärztlichen Einheits- standes (1952) ein und wirkte an der Prüfungsordnung für Zahnärzte mit. Schuchardt hinterließ fünf Monografien, 52 Buch- und 108 Zeitschriftenbeiträge. Mehr als 20 Jahre lang gab er die viel beachtete Jahrbuchreihe „Fortschritte der Kiefer- und Gesichtschirurgie“ heraus. Sein bedeutendstes Werk ist jedoch seine Habilitationsschrift, in der er Weiterentwicklungen der Augen- höhlen- und Nasenplastik nach Ganzer und der Ohrmuschelplastik nach Pierce skizzierte. Schuchardt prägte die Bezeichnung „Rund- stiellappen“ und widmete der „Rundstiellap- penplastik“ regelmäßig Veröffentlichungen [Riemer, 2005]. Für die vollständige Mobili- sation des Oberkiefers in der Le-Fort-I-Ebene beschrieb er die Abtrennung der Flügelfort- sätze (1942); diese stellte eine Weiterent- wicklung der Technik von Axhausen dar; 1954 verbesserte er die Technik der Front- zahnblockosteotomie. Als Schuchardts wichtigste Leistung auf dem Gebiet der kieferorthopädischen Chirurgie gilt seine 1955 etablierte Seitenzahnblockosteotomie [Riemer, 2005]. Viele weitere Operations- methoden der MKG-Chirurgie wurden von ihm modifiziert. Bekanntheit erlangte auch der nach ihm benannte Drahtschienen- verband, der nach dem Anpassen und Ein- binden mit selbsthärtendem Kunststoff ver- klebt wird [Hoffmann-Axthelm, 1983]. Die Liste der Schuchardt angetragenen Würden ist lang: Neben den erwähnten Ämtern war er Ehrenvorsitzender der DGPW, die zudem die „Karl-Schuchardt-Medaille“ ins Leben rief. Acht ausländische Gesell- schaften der Fachdisziplinen Zahnheilkunde, MKG-Chirurgie beziehungsweise Plastische und Wiederherstellungschirurgie ernannten ihn zum Ehrenmitglied. Bereits 1955 war er in die Leopoldina aufgenommen und 1968 ebenda zum Senator ernannt worden. Die Universität Helsinki verlieh ihm 1966 einen Ehrendoktor, 1971 wurde ihm die Silberne Ehrennadel der deutschen Zahnärzteschaft zuerkannt und 1972 die Paracelsus-Medaille, die höchste Auszeichnung der deutschen Ärzteschaft [Pfeifer, 1977; Riemer, 2005]. Univ.-Prof. Dr. mult. Dominik Groß Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät RWTH Aachen University, MTI II Wendlingweg 2, 52074 Aachen dgross@ukaachen.de Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden. 83

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