Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 10

zm 109, Nr. 10, 16.5.2019, (1110) oder englischen Sprache nicht mächtig ist, die gleiche Angst verspürt und ähnliche Vor- behalte hätten. Im Gelöbnis der Berufsordnung für die saar- ländischen Zahnärzte heißt es: „Ich werde […] bei der Ausübung meiner zahnärztli- chen Pflichten keinen Unterschied machen weder nach Alter, Krankheit, Behinderung, Religion, Nationalität, Rasse noch nach Parteizugehörigkeit oder sozialer Stellung.“ Das Gerechtigkeitsprinzip der Ethik nach Beauchamp und Childress fordert von uns eine gerechte Behandlung unserer Patien- ten, ohne die Rechte anderer Beteiligter zu verletzen. Vor diesem Hintergrund ist es richtig, die Schmerzbehandlung bei diesem Patienten durchzuführen, da wir Zahnärzte über die Mittel verfügen, um die notwendi- gen Infektionsschutzmaßnahmen für uns, unser Team und alle unsere Patienten umzu- setzen und Vorsicht an die Stelle von Angst treten zu lassen. Dennoch offenbart dieser Fall weitere ethi- sche Konflikte, die auf die Sprachbarriere zu- rückzuführen sind und die sich allein auf den Patienten beziehen. Das Prinzip des Respekts vor der Patienten- autonomie setzt einen aufgeklärten, mündi- gen Patienten voraus, der selbstbestimmt über die Durchführung der notwendigen Behandlung entscheidet und uns dadurch erst die – letztlich rechtsgültige – Einwilli- gung zum Eingriff gibt. Da der Patient ohne ausreichende Sprach- kenntnisse und ohne Dolmetscher in der Praxis erschienen ist, war Dr. H. aufgrund der Zeichensprache und der relativ eindeuti- gen Symptomatik zwar „gerade so“ in der Lage, das Krankheitsbild und den Wunsch des Patienten nach Beseitigung der Schmerzen zu erfassen; die Aufklärung über die Diagnose und die verschiedenen Behandlungsmög- lichkeiten sowie deren Nutzen, Risiken und Kosten konnte jedoch nicht erfolgen. Darü- ber hinaus ist davon auszugehen, dass der Patient keine hinreichende Vorstellung von den zahnmedizinischen Möglichkeiten des deutschen Gesundheitssystems hat, so dass sein Bedarf an Aufklärung viel größer ist, als bei „vertrauten“ Patienten. Der einzig klar nachvollziehbare Wille des Patienten besteht also zunächst nur in der Schmerzbeseitigung. Die fehlenden anamnestischen Daten, vor allem im Hinblick auf schädliche Wirkungen der Behandlung (beispielsweise Allergien, Wechselwirkungen, Blutungsneigungen und Wundheilungsstörungen) erfordern eine be- sonders sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwä- gung der einzusetzenden Therapiemittel (Non-Malefizienz-Prinzip) . Um zum Wohle des Patienten zu handeln ( Benefizienz-Prinzip ), ohne die erst in einem zukünftigen Prozess herzustellende Patien- tenautonomie zu untergraben, sollte zu- nächst nur die Behandlung der Schmerzen und der Entzündungsursache erfolgen. Ob der Zahn letztlich erhalten werden kann und auf welche Weise dies geschehen soll, kann Dr. H. erst zu einem späteren Zeit- punkt in einem Gespräch mit dem Patienten – wahrscheinlich mit Unterstützung eines Dolmetschers – erörtern. Die Beseitigung der Schmerzen und die Re- duktion der Sprachbarriere sind wiederum Voraussetzung dafür, dass der Patient zu sei- ner Zahnärztin ein Vertrauensverhältnis auf- bauen kann – und die Zahnmedizinerin zu ihm. Dr. med. dent. Gereon Schäfer Saarbrücken gschaefer@live.de (Literatur beim Verfasser) Foto: privat Ethische Dilemmata, also Situationen, in denen der Zahnarzt zwischen zwei konkur- rierenden, nicht miteinander zu vereinba- renden Handlungsoptionen zu entscheiden oder den Patienten zu beraten hat, lassen sich mit den Instrumenten der Medizinethik lösen. Viele der geläufigen Ethik-Konzep- tionen (wie die Tugendethik, die Pflichten- ethik, der Konsequentialismus oder die Für- sorge-Ethik) sind jedoch stark theoretisch hinterlegt und aufgrund ihrer Komplexität in der Praxis nur schwer zu handhaben. Eine methodische Möglichkeit von hoher praktischer Relevanz besteht hingegen in der Anwendung der sogenannten Prinzipien- ethik nach Tom L. Beauchamp und James F. Childress: Hierbei werden vier Prinzipien „mittlerer Reichweite“, die unabhängig von weltanschaulichen oder religiösen Über- zeugungen als allgemein gültige ethisch- moralische Eckpunkte angesehen werden können, bewertet und gegeneinander ab- gewogen. Drei dieser Prinzipien – die Patientenauto- nomie, das Nichtschadensgebot (Non-Ma- lefizienz) und das Wohltunsgebot (Benefi- zienz) – fokussieren ausschließlich auf den Patienten, während das vierte Prinzip Ge- rechtigkeit weiter greift und sich auch auf andere betroffene Personen oder Personen- gruppen, etwa den (Zahn-)Arzt, die Familie oder die Solidargemeinschaft, bezieht. Für ethische Dilemmata gibt es in den meisten Fällen keine allgemein verbind- liche Lösung, sondern vielfach können differierende Bewertungen und Hand- lungen resultieren. Die Prinzipienethik er- möglicht aufgrund der Gewichtung und Abwägung der einzelnen Faktoren und Argumente subjektive, aber dennoch nachvollziehbare und begründete Gesamt- beurteilungen und Entscheidungen. Des- halb werden bei klinisch-ethischen Fall- diskussionen in den zm immer wenigstens zwei Kommentatoren zu Wort kommen. Oberstarzt Prof. Dr. Ralf Vollmuth Die Prinzipienethik 48 Praxis

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