Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 17

zm 109, Nr. 17, 1.9.2019, (1826) nellen Nutzen sein [Müller et al., 2013; Schimmel, 2017]. Umso wichtiger ist es, bei den vorgenannten, als besonders „vulnera- bel“ geltenden Patienten die Indikations- stellung anhand von drei Kriterien zu über- prüfen, die auch unter dem Begriff „zahn- medizinische funktionelle Kapazität“ zusam- mengefasst werden [Kunze und Nitschke, 2012]: der Therapiefähigkeit, der Mund- hygienefähigkeit sowie der Eigenverantwor- tung beziehungsweise Selbstwirksamkeit des Patienten (Tabelle 2). Je positiver diese Kriterien beurteilt werden, desto eher kommt eine Implantatversor- gung in Betracht. Sie eignen sich besonders, um Limitationen zu erfassen, die sich nicht auf den ersten Blick erschließen. So werden neben etwaigen körperlichen und mentalen Einschränkungen auch die familiären und gesellschaftlichen Beziehungen des einzel- nen Patienten – das heißt dessen soziale Ressourcen sowie auch die prospektive Nachsorge – in die Beurteilung einbezogen [Nitschke et al., 2017]. Zur prospektiven Nachsorge gehören wiederum die Variablen „Nachsorgekompetenz“ und „Nachsorge- planung“ [Kunze und Nitschke, 2012; Groß, 2014; Groß et al., 2018]: Die pro- spektive Nachsorgekompetenz ist von grundlegender Bedeutung, weil lmplantat- konstruktionen im Regelfall als Langzeit- versorgungen angelegt sind. Hierbei inte- ressiert zum Beispiel, ob der manuell ein- geschränkte Patient (mutmaßlich) auch in der absehbaren Zukunft regelmäßig zum Säubern in die Praxis kommen kann, ob er ein soziales Umfeld hat, das diese Zahnarzt- besuche ermöglicht beziehungsweise unter- stützt oder ob Fremdputzer zur Verfügung stehen. Die Nachsorgeplanung soll klären, wie die Restauration mit minimalem Auf- wand instandgehalten und auch unter ver- änderten Rahmenbedingungen (zum Bei- spiel Immobilität) an einen neuen Kontext angepasst werden kann. Hier sollte sich der Zahnarzt unter anderem fragen, ob er sich im Bedarfsfall zu Haus- oder Heim- besuchen bereitfindet oder ob er beispiels- weise ein Implantatsystem anbietet, das so bewährt und nachhaltig ist, dass ein gege- benenfalls erforderlicher Materialaustausch nach einigen Jahren möglich erscheint und dadurch eine Neuversorgung umgangen werden kann. Zusammenfassend lassen sich folgende Leit- fragen für eine sorgfältige Indikationsstellung zur Implantatversorgung ableiten [Groß, 2014; Groß et al., 2018]: \ Wurde dem Erhalt der vorhandenen bio- logischen Strukturen bei der Therapieplanung Vorrang eingeräumt? \ Wurden die Möglichkeiten der restaurati- ven Behandlung mitbedacht und gegebenen- falls als Behandlungsoption angeboten? \ Wurden bestehende Kontraindikationen für einen implantatchirurgischen Eingriff, wie zum Beispiel eine geplante oder laufen- de Chemo- oder Strahlentherapie oder eine geplante beziehungsweise bereits durchge- führte Organtransplantation, zuverlässig ausgeschlossen? \ Wurden risikoerhöhende Einflussfaktoren wie zum Beispiel fortgesetztes (starkes) Rauchen, schlecht eingestellter Diabetes oder Medikamente wie Bisphosphonate oder Denosumab hinreichend berücksichtigt? \ Insbesondere bei hochbetagten bezie- hungsweise eingeschränkten Patienten: Wurden die Therapiefähigkeit, die Mund- hygienefähigkeit und die Selbstwirksamkeit des Patienten abgeschätzt? \ Ist der Behandlungsplan an der best- möglichen Evidenz orientiert? Bedeutet eine strategische Pfeilervermehrung, zum Beispiel durch ein Implantat, eine Verbesserung der Langzeitprognose? \ Ist die letztlich geplante Behandlung durch den Patientenwunsch gedeckt oder resultiert sie gegebenenfalls aus einer direk- tiven zahnärztlichen Aufklärung? Herausforderung 2: Aufklärung und Wahrung der Patientenautonomie Die letztgenannte Frage verweist auf das ethische Prinzip des Respekts vor der Patientenautonomie [Groß, 2012; Groß und Nitschke, 2017; Reid, 2017]. Tatsächlich gibt es zwei extreme Szenarien, bei denen die Indikationsstellung und die gebotene Achtung der Selbstbestimmung des Patienten in ein Spannungsverhältnis geraten können: Im ersten Szenario klärt der Zahnarzt direktiv zugunsten der Behandlungsoption „Implantatversorgung“ auf, obwohl es im betreffenden Fall gleichwertige oder gege- benenfalls sogar vorzugswürdige Behand- lungsalternativen gibt. Hier wird der Patient also selektiv informiert und damit gar nicht erst auf einen Kenntnisstand gebracht, der Tabelle 3 Quelle: Karin Groß, Mathias Schmidt, Dominik Groß Risiken, Komplikationen und Nebenwirkungen im Zusammenhang mit Zahnimplantaten a Biologische Komplikationen und Nebenwirkungen (Allgemeinerkrankungen, schlechte Mundhygiene, schlechter Knochenzustand) – Bakterielle Infektionen – Periimplantitis – Sensorische Störungen – Progressiver Knochenabbau – Implantatverlust b Mechanische Komplikationen und Nebenwirkungen (schlechte Implantatposition, Probleme bei der Belastung, unzureichendes Knochenbett, Bruxismus) – Schraubenlockerung – Schrauben-/Implantatfrakturen – Probleme bei der Zementierung/Dezementierung – Implantatverlust c Technische Komplikationen und Nebenwirkungen (Überlastung, Parafunktion, Materialschwächen) – Fraktur des Gerüsts – Fraktur des Abutments – Absplitterung oder Bruch der Verblendkeramik 40 Zahnmedizin

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