Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 17

zm 109, Nr. 17, 1.9.2019, (1836) Studien zum Einfluss von Rheuma auf die implantatbezogenen Behandlungsergebnisse sowie auf das periimplantäre Knochen- und Weichgewebe vorliegen. Nur so wird M. in die Lage versetzt, eine persönliche Abwä- gung vorzunehmen und anschließend eine eigenständige Entscheidung zu treffen. Dabei sollte es Dr. L. vermeiden, sich auf die Position zurückzuziehen, dass aufgrund der fehlenden klinischen Forschungen, also feh- lender externer Evidenz, die Implantation per se obsolet sei. Denn Evidenzbasierte Zahnmedizin (EbZ) stützt sich nicht allein auf derartige Studien – hinzu treten nach dem Drei-Säulen-Modell für die EbZ/EbM „als integratives Konzept für […] individuelle patientenbezogene Entscheidungen“ von Antes und Türp als weitere Säulen die indi- viduelle klinische Erfahrung des Zahnarztes sowie die Werte und Wünsche des Patienten [Antes G, Türp JC: Evidenzbasierte Zahn- medizin – aktueller Stand. Dtsch Zahnärztl Zschr 2013; 68 (2): 72–75]. Non-Malefizienz (Nichtschadensprinzip): Bei der Abwägung des Nichtschadensgebots stehen die oralchirurgischen Eingriffe im Vordergrund. Sowohl bei der Wiederholung der Insertion als auch bei einer abermals möglichen Entfernung der Implantate in- folge eines weiteren Rheuma-Schubes kön- nen benachbarte Strukturen (Zähne und Nerven) geschädigt oder die Kieferhöhle eröffnet werden. Dem gegenüber steht die klassische Brückenversorgung, bei der durch die notwendige Präparation gesunde Zahnhartsubstanz geopfert werden muss und durch mögliche Präparationstraumata irreversible Nervschädigungen resultieren können – um nur die wichtigsten Risiken zu nennen. Dennoch erscheint diese klassische Form der zahnärztlich-prothetischen Versor- gung als risikoärmere Therapieoption. Benefizienz (ärztliche Verpflichtung auf das Wohl des Patienten): Bei der Beurteilung des Benefizienzprinzips stehen die Bedürfnisse und das „Wohl- ergehen“ der Patientin im Vordergrund. Aus zahnärztlicher Sicht ist es, auch zur Ver- meidung möglicher Folgestörungen des orofazialen Systems, notwendig, die beiden Einzelzahnlücken zu versorgen. Augen- scheinlich hat sich M. schon einmal ganz bewusst für eine Implantatversorgung ent- schieden. Ob ihr zum damaligen Zeitpunkt mögliche Risiken bekannt waren bezie- hungsweise ob sie deren Ausmaß richtig einzuschätzen vermochte, kann nur gemut- maßt werden. Allerdings lässt die Selbstreflexion von Dr. L. den Schluss zu, dass er seine Patientin um- fassend aufgeklärt hat. Angesichts der Vor- geschichte spricht einiges dafür, dass M. sich erneut für die Insertion von Dental- implantaten durch ihren Zahnarzt ent- scheiden wird und so ihr persönliches Wohl erreichen möchte. Gerade hier ist es aber besonders wichtig, der Patientin zu verdeutlichen, dass die Vorzüge einer kom- fortableren Versorgung durch ein höheres, möglicherweise kaum kalkulierbares Risiko erkauft werden – also dass das „Wohl“ sehr schnell in ein „Wehe“ umschlagen kann. Gerechtigkeit/Fairness gegenüber Dritten: Im vorliegenden Fall werden auch die Belange der Krankenversicherung von M. berührt. Unabhängig vom Versicherungs- status muss die Solidargemeinschaft der Versicherten sich – zumindest teilweise – an der prothetischen Versorgung beteiligen. Ethische Dilemmata, also Situationen, in denen der Zahnarzt zwischen zwei konkur- rierenden, nicht miteinander zu vereinba- renden Handlungsoptionen zu entscheiden oder den Patienten zu beraten hat, lassen sich mit den Instrumenten der Medizinethik lösen. Viele der geläufigen Ethik-Konzep- tionen (wie die Tugendethik, die Pflichten- ethik, der Konsequentialismus oder die Für- sorge-Ethik) sind jedoch stark theoretisch hinterlegt und aufgrund ihrer Komplexität in der Praxis nur schwer zu handhaben. Eine methodische Möglichkeit von hoher praktischer Relevanz besteht hingegen in der Anwendung der sogenannten Prinzipien- ethik nach Tom L. Beauchamp und James F. Childress: Hierbei werden vier Prinzipien „mittlerer Reichweite“, die unabhängig von weltanschaulichen oder religiösen Über- zeugungen als allgemein gültige ethisch- moralische Eckpunkte angesehen werden können, bewertet und gegeneinander ab- gewogen. Drei dieser Prinzipien – die Patientenauto- nomie, das Nichtschadensgebot (Non-Ma- lefizienz) und das Wohltunsgebot (Benefi- zienz) – fokussieren ausschließlich auf den Patienten, während das vierte Prinzip Ge- rechtigkeit weiter greift und sich auch auf andere betroffene Personen oder Personen- gruppen, etwa den (Zahn-)Arzt, die Familie oder die Solidargemeinschaft, bezieht. Für ethische Dilemmata gibt es in den meisten Fällen keine allgemein verbind- liche Lösung, sondern vielfach können differierende Bewertungen und Hand- lungen resultieren. Die Prinzipienethik er- möglicht aufgrund der Gewichtung und Abwägung der einzelnen Faktoren und Argumente subjektive, aber dennoch nachvollziehbare und begründete Gesamt- beurteilungen und Entscheidungen. Des- halb werden bei klinisch-ethischen Fall- diskussionen in den zm immer wenigstens zwei Kommentatoren zu Wort kommen. Oberstarzt Prof. Dr. Ralf Vollmuth Die Prinzipienethik Der Arbeitskreis verfolgt die Ziele: \ das Thema „Ethik in der Zahnmedizin“ in Wissenschaft, Forschung und Lehre zu etablieren, \ das ethische Problembewusstsein der Zahnärzteschaft zu schärfen und \ die theoretischen und anwendungs- bezogenen Kenntnisse zur Bewältigung und Lösung von ethischen Konflikt- und Dilemmasituationen zu vermitteln. www.ak-ethik.de Arbeitskreis Ethik 50 Zahnmedizin

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