Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 22

Die zm-Redaktion ist frei in der Annahme von Leserbriefen und behält sich sinnwahrende Kürzungen vor. Außerdem behalten wir uns vor, Leserbriefe auch in der digitalen Ausgabe der zm und bei www.zm-online.de zu veröffentlichen. Bitte geben Sie immer Ihren vollen Namen und Ihre Adresse an und senden Sie Ihren Leserbrief an: leserbriefe@zm-online.de oder Redaktion: Zahnärztliche Mitteilungen, Behrenstraße 42, 10117 Berlin. Anonyme Leserbriefe werden nicht veröffentlicht. FALLDISKUSSION BERUFSETHIK BRAUCHT FREIRAUM Zum Beitrag „Die klinisch-ethische Falldiskussion: ‚Der Zahn muss raus!‘ – Patientenwunsch versus Expertise“, zm 20/2020, S. 46–50. Verlassen wir die Komfortzone! Vielen Dank für den Beitrag „Der Zahn muss raus“ (zm 20/2020), der meiner Ansicht nach aber zu kurz greift. Nur drei meiner heiklen Situationen: 1. Patient will Zahnerhalt, aber die Prognose der GKV-Wurzel- behandlung ist nahezu aussichtslos – als Privatleistung jedoch sehr gut (Stichworte: präendodontische Aufbaufüllung, Fragment- entfernung, (ultra)schall-aktivierte Spülung, eLM, OP-Mikroskop, DVT, NiTi – einzeln oder in Kombination). Dabei „KANN“ oder „WILL“ der Patient kein Geld investieren. Beauchamp und Childress, 1979: Punkt 1: Patientenautonomie, Punkt 2: Non-Malefizienzgebot und Punkt 3: Benefizienzgebot sprechen für den Zahnerhalt, Punkt 4: Gerechtigkeitsgebot bei „KANN“ auch. Trotzdem wird der betroffene Zahn regelmäßig entfernt werden müssen (besser gleich, sonst mit Kreuzwegstationen über Offenlassen, diverse Med‘s, WFi, WSR und Knochenverlust). Die prothetischen Folgekosten für „Gesundheits“-kassen hätten besser in den qualitativ hochwertigen Zahnerhalt investiert werden können. Wo bleibt die primäre ethische Verpflichtung der „Gesundheits“-kassen und Politik? – Die Zahnärzte können diesen Systemmangel nicht nachgeordnet und altruistisch aus- gleichen! Einfacher, wenn der Patient seinen Zahn nicht will! 2. Neue Arbeitsstelle – neue Patienten: Ein Ingenieur ist wegen persistierender Beschwerden am endodontisch in fünf Sitzungen vorbehandelten Zahn 27 genervt; prothetische Versorgbarkeit sehr gut; 25, 26, 28 fehlen. 1. Sitzung: Patient über Prognose und Kosten NICHT aufgeklärt; auf mein eigenes Kostenrisiko unter Kofferdam mit Lupenbrille vierter Kanal (mb2) eröffnet, Stufe und Verblockung palatinal überwunden, vier Kanäle desinfiziert (PUI), suffiziente Med/Verschluss gelegt und über nun gute Prognose informiert. Patient in Folgesitzung zufrieden: „Die eine lange Behandlung hat mehr gebracht als die fünf kurzen im halben Jahr zuvor.“ Erst jetzt erfolgt Aufklärung: Zahn für Brücke bei guter Prognose wichtig – sonst Zeit-/Kostenaufwand für Implantat. Ich gestehe dem Patienten, ihn in seinem Sinne hintergangen zu haben und erst jetzt über Kosten zu sprechen, da er seinen Zahn zuvor auf- gegeben hätte: Eigentliche Kosten mit 1.200 Euro angesetzt, Weiterbehandlung (vorangehende Kosten berücksichtigend und Kritik am Chef vorbeugend) für 600 Euro angeboten. Ohne Zahlungsbereitschaft könne aber die Behandlung nicht mit erforderlicher Qualität fortgesetzt werden. Patient gibt sein prognostiziertes Verhalten zu, erkennt gute zahnärztliche Behandlung, kann sich die Kosten leisten und spart gegenüber Implantat. Die Stelle aber bin ich wegen Unwirtschaftlichkeit und schlechten Patienteneindrucks auf Vorbehandler los. Nach Beauchamp und Childress, 1979, Punkte 1, 2, 3 und 4 – auf den behandelnden Zahnarzt bezogen – unethisch, dass eine gute Patientenbehandlung so viel Altruismus und berufliches Martyrium erfordert. Ex 27 wäre einfach und unverfänglich gewesen! 3. Junge Patientin heuert auf Kreuzfahrtschiff monatelang als Animateurin an, Flieger geht in der Nacht. War am selben Tag beim Kollegen zur Füllung 46. Kommt nach Feierabend als Notfall in die Praxis, will den Zahn raushaben. Wir bieten drei Stunden Wurzelbehandlung (VitE, WF, Kons) auch kostenlos an. Patientin ist beratungsresistent – Zahn wird schweren Herzens entfernt. Geschehen 2000, schlechtes Gewissen bis heute. Das enge Zeit- fenster war damals tragisch. Das System aber ist bis heute un- ethisch: Gute Beratung und Behandlung sind im Kostenrahmen der GKV regelmäßig nicht leistbar. Die „Gesundheits“-Kassen und -Minister sind ihren Namen nicht wert! Die ethisch verwerfliche, jahrzehntelange Missachtung des Patientenwohls durch Politik, „Gesundheits“-kassen, private Versicherer, nicht neutrale MDK-„Gutachter“ u. a. m. führte zur Kriminalisierung und wirtschaftlich erzwungener Korrumpierung mancher „Leistungserbringer“. Einige charismatische Privat(zahn)ärzte können ihnen widerstehen. Einige mehr reiben sich auf. Viele sind notgedrungen tough und sehr geschmeidig, wie so oft in der Geschichte. Kaum einer, den es nicht bekümmert. Berufsethik erfordert aber ein Mindestmaß an wirtschaftlichem Freiraum – sonst geht es um Triage! Dr. med. dent. András Csögör, Wolfsburg 10 | LESERFORUM zm 110, Nr. 22, 16.11.2020, (2144)

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