Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 22

zm 110, Nr. 22, 16.11.2020, (2212) und kaufähiges Gebiß militärisch von größter Bedeutung ist“. Nicht das indi- viduelle Patientenwohl, sondern das „Volksinteresse“ und die Stärkung der „Kampfkraft“ standen im Mittelpunkt des Promotionsprojekts. 23 SEINE „ERFAHRUNG“ SICHERT DIE NACHKRIEGSKARRIERE Ende März 1945 wurde Schmidhuber durch die Amerikaner verhaftet und festgesetzt. Aufgrund seiner vielfältigen Funktionen in NS-Organisationen musste er sich einer Entnazifizierung unterziehen. 24 Auch an seinem Fall lässt sich – wie bei den bereits vorge- stellten Zahnärzten Hermann Euler 25 , Hermann Pieper 26 und Reinhold Ritter 27 – die Entwicklung der Spruchkammerverfahren zu „Mit- läuferfabriken“ 28 veranschaulichen: So war er 1946 zunächst als Haupt- schuldiger angeklagt worden. Am 25.7.1947 wurde er dann in die Be- währungsgruppe und am 22.7.1948 schließlich in die Gruppe der Mitläufer eingeordnet. Schmidhuber brachte im Verfahren eine „Flut positiver ‚ Persil- scheine‘“ 29 bei, die ihm eine ideolo- gische Distanz zum Nationalsozialis- mus bescheinigten. 30 Wie viele ehemalige Nationalsozialis- ten konnte Schmidhuber seine Hoch- schulkarriere in der Nachkriegszeit fortsetzen: 1950 zählte er bei der Nach- besetzung des Lehrstuhls und Direk- torats der Westdeutschen Kieferklinik in Düsseldorf bereits zum Favoriten- kreis – hier fiel die Wahl allerdings letztlich auf Karl Häupl 31 . Doch nur kurze Zeit später – im Oktober 1951 – arrivierte Schmidhuber zum ordent- lichen Professor an der Universität zu Köln. Bemerkenswert war diese Beru- fung vor allem deshalb, weil er seit 1932(!) nicht mehr wissenschaftlich publiziert hatte 32 – was in Köln durch- aus bekannt war. In diesem Punkt weist Schmidhubers Karriere deutliche Parallelen zu dem in dieser Reihe be- reits behandelten Kölner Hochschul- lehrer Wilhelm Gröschel 33 auf. Schmidhubers Nachfolger in Heidel- berg, Reinhold Ritter, hatte noch An- fang 1950 auf Schmidhubers fehlende Publikationen hingewiesen und ge- mutmaßt, dass dieser es schwer haben dürfte, „an eine andere Universität be- rufen zu werden“. 34 Selbst Schmidhu- bers früherer akademischer Mentor Kantorowicz vermerkte in einer gut- achterlichen Stellungnahme im Mai 1951 wahrheitsgemäß, dass dieser kaum publiziert habe. Kantorowicz war erst in der Nachkriegszeit aus sei- nem Exil in Istanbul zurückgekehrt und notierte: „Ich will jedoch nicht verfehlen, noch einmal zu betonen, dass ich über Schmidhubers wissen- schaftliche Leistungen und das Ansehen, das er sich durch diese erworben hat, nicht zu urteilen in der Lage bin. Seit- dem ich die deutsche zahnärztliche Literatur verfolge, also seit etwa 5 Jah- ren, liegen keine wissenschaftlichen Publikationen von ihm vor.“ 35 Doch die Kölner legten andere Kriterien zugrunde. Zwar nahmen sie zunächst neben Schmidhuber auch die wissen- schaftlich überlegenen Mitbewerber und späteren Ordinarien Ewald Harndt 36 sowie Martin Herrmann 37 in die engere Wahl, entschieden sich schlussendlich jedoch für Ersteren. Sie begründeten dies ausgerechnet mit Schmidhubers reichen Erfahrungen und Aktivitäten als Heidelberger Hoch- schullehrer in den Jahren bis 1945. 38 Ganz reibungslos verlief Schmidhubers Berufung dennoch nicht: Der schei- dende Ordinarius der Kölner Zahn- klinik, Karl Zilkens 39 , hatte gemeinsam mit drei weiteren Professoren ein „Sondervotum“ eingereicht, das für die Hausberufung von Zilkens’ Oberarzt Hans von Thiel plädierte – allerdings ohne Erfolg. Liest man die späteren Laudationes zu Schmidhuber, so fällt auf, dass dessen dürftige Publikationsleistungen dort entweder nicht thematisiert oder aber beschönigt wurden: So stellte einer sei- ner Schüler 1996 fest, Schmidhuber habe seine Erkenntnisse vor allem „in dem von seinem Lehrer Alfred Kanto- rowicz herausgegebenen Handbuch niedergelegt“. 40 Damit räumte er indi- rekt ein, dass der Schwerpunkt von Schmidhubers wissenschaftlichem Wirken in der Zeit der Weimarer Repu- blik lag, denn Kantorowiczs Handbuch erschien in den Jahren 1929 bis 1931 und umfasste ohnehin lediglich lexika- lische Kurzbeiträge. Auch Elsbeth von Schnizer 41 äußerte sich 1955 entschul- digend zu Schmidhubers Publikations- leistungen: „Die verbreitete Weise, eines Menschen wissenschaftlichen Wert da- nach einzuschätzen, welche Menge an Literatur er von sich gegeben [...] hat, dieser Maßstab wird Schmidhubers Wirken als Hochschullehrer nicht ge- recht“. 42 Euler wiederum hob in seiner Laudatio stark auf Schmidhubers orga- nisatorische Leitungen ab, indem er die „Ausgestaltung der Kölner Klinik für Zahn- und Kieferkranke“ durch Schmidhuber als dessen eigentliche „Glanzleistung“ herausstellte. 43 In der Summe dokumentiert der Fall Schmidhuber auf eindrucksvolle Weise, dass (zumeist im „Dritten Reich“ ge- wonnene) Leitungserfahrungen bei universitären Berufungen im Nach- kriegsdeutschland vielfach stärker wogen als eine politische Distanz zum Nationalsozialismus oder nachweis- liche Forschungsleistungen. Vor die- sem Hintergrund kann es auch nicht überraschen, dass Schmidhuber 1955 zum Dekan der Heidelberger Medizi- nischen Fakultät aufstieg – ohne sich zuvor wieder der wissenschaftlichen Arbeit zugewandt zu haben. \ 23 Krause, 1941, IX; vgl. hierzu auch Staehle, 2021; 24 LA Baden-Württemberg, Generallandesarchiv Karlsruhe 465 q, Nr. 34956; 25 Staehle/Eckart, 2005, 677–694; Groß, 2018b, 92–93; Groß, 2020e, 66–68; 26 Groß, 2020c, 90–92; 27 Gross et al., 2018b, 285–321; Groß/Schmidt, 2020, 68–70; 28 Niethammer, 1982; 29 Eckart/Sellin/Wolgast, 2006, 46; 30 UA Heidelberg, PA 5677; 31 Groß, 2020g, 95–101; Groß, 2020h, 226–233; 32 Ebendies betont auch Staehle, 2020; 33 Groß, 2020d, 66–68; 34 LA NRW, NW 172, Nr. 174; 35 Ebenda; 36 Groß, 2020i, 131–141; 37 Ritter, 1965, 1–2, 38 LA NRW, NW 172, Nr. 174. Vgl. auch Staehle, 2020; 39 Kraft, 1982; 40 Voß, 1996, 227–243; 41 Türck, 2008, 8–12; 42 Schnizer, 1955, 85–86; 43 Euler, 1955, 145–147. ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion ange- fordert werden. 78 | GESELLSCHAFT

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