Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 8

zm 111, Nr. 8, 16.4.2021, (739) H insichtlich des Zeitpunkts be- fand sich die Zahnärzteschaft mit der Aufarbeitung ihrer fa- talen Rolle im System des National- sozialismus in „guter Gesellschaft“; sie konkurrierte mit staatlichen Insti- tutionen wie dem Bundesinnen- und dem -außenministerium. Damit war sie genuiner Teil derer, die nach den Worten des Vorstandsvorsitzenden der Kassenzahnärztlichen Bundesver- einigung (KZBV), Dr. Wolfgang Eßer, durch „lange ausgeblendete Realitä- ten“ 1 dazu beitrugen, die Opfer er- neut zu demütigen und den latenten Antisemitismus, Rassismus etc. in der Bevölkerung zu bedienen. Sie ver- passte die Chancen, NS-induzierte Strukturveränderungen zum Vorteil GKV-Versicherter zu revidieren und die erodierenden demokratischen Verhältnisse allgemein und innerhalb der eigenen Berufsgruppe zu festigen. Etwa 75 Jahre im Anschluss an die Befreiung vom Faschismus zeigte sich die verfasste Zahnärzteschaft partiell bereit, sich der These des Historikers Norbert Frei aus dem Jahr 2019 zöger- lich zu nähern: „Ein Erinnern, das ohne fundiertes historisch-kritisches Wissen auszukommen glaubt, wird den Herausforderungen von rechts nicht standhalten.“ Der Umfang und die Ergebnisse des unter der Leitung der Medizinhistoriker Prof. Dr. Dr. Dr. Dominik Groß, Dr. Matthis Krischel et al. Ende 2019 ab- geschlossenen Projekts „Zahnmedizin und Zahnärzte im Nationalsozialismus“ sind hinsichtlich der entstandenen Materialfülle, der Erweiterungen der zuvor nicht immer validen Grund- lagen, zahlreicher Biografien und der leider fragmentären gesundheits- politischen Gesamteinschätzung fach- lich, auch didaktisch beeindruckend. Die erarbeiteten medizin-historisch und standespolitisch bedeutsamen Ergebnisse tragen hoffentlich dazu bei, ein Zurückfallen hinter diese Fak- ten durch den sich bereits abzeich- nenden historischen Revisionismus zu verhindern. Diejenigen, denen das bereits seit den 1980er-Jahren erarbeitete medizin- historische Material bekannt war, hatten keine bahnbrechend neuen Erkenntnisse erwartet. Die Ergebnisse waren allerdings nicht „umfassend“, wie auf der Pressekonferenz anläss- lich der Vorstellung des Projekts am 28. November 2019 insinuiert wurde. Dessen ungeachtet: Die Spannweite von der 1983 in den Zahnärztlichen Mitteilungen zitierten Einlassung des Präsidenten des Bundesverbands Deutscher Zahnärzte (BDZ, heute Bundeszahnärztekammer), Dr. Horst Sebastian, dass der Faschismus unter den Zahnärzten gar nicht zuhause gewesen wäre 2 bis zu dem aktuellen Eingeständnis, in der Vergangenheit eine Berufsgruppe dargestellt zu haben, in der sich die Nationalsozialisten so zahlreich versammelt hatten wie in keiner anderen, verdient Anerkennung. Gleichwohl generierte die Präsenta- tion des Forschungsprojekts zu korri- gierende Interpretationen. Nach etwa 40 Jahren intensiver Befassung mit diesem Thema, zahlreichen wissen- schaftlichen Publikationen, Vorträgen und der teilweisen Koordination des wissenschaftlichen Materials zahl- reicher Autoren im Rahmen der Publi- kationsmöglichkeiten der Vereini- gung Demokratische Zahnmedizin e. V. KRITISCHE DISKUSSION Im Rahmen der Serie „Täter und Verfolgte im ,Dritten Reich‘“ hat die zm 2020 am Beispiel einzelner Lebensläufe die Verstrickungen der deutschen Zahnärzteschaft ins NS-Regime nachgezeichnet. Die Serie ist Teil des Forschungsprojekts „Zahnmedizin und Zahnärzte im Nationalsozialismus“ unter Leitung der Medizinhistoriker Prof. Dr. Dr. Dr. Dominik Groß und Dr. Matthis Krischel. Zu diesem Forschungsprojekt lesen Sie nachfolgend eine kritische Auseinandersetzung von Dr. Wolfgang Kirchhoff, der bereits in den 1980er-Jahren zur Zahnärzteschaft in der NS-Zeit geforscht und publiziert hat – teils gegen erhebliche Widerstände. Im Anschluss folgt eine Erwiderung von Prof. Groß. (Die Redaktion) ZAHNMEDIZIN UND ZAHNÄRZTE IM NATIONALSOZIALISMUS Kritische Anmerkungen zum NS-Forschungsprojekt Wolfgang Kirchhoff 1 Eßer W. Dokumentation der Ergebnisse des Forschungsprojekts „Zahnmedizin und Zahnärzte im Nationalsozialismus“. Pressekonferenz am 28.11.2019 in Berlin. S. 2/3; 2 Römer F. Die Patienten waren Mit-Akteure. zm 73:1582–1583. 1983; GESELLSCHAFT | 81

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