Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 10

zm 111, Nr. 10, 16.5.2021, (914) Es wäre begrüßenswert gewesen, wenn im Kinderschutz engagierten Vertragszahnärztinnen und Vertrags- zahnärzte die gleiche Zusammen- arbeit mit Jugendämtern wie Ver- tragsärzten ermöglicht worden wäre. MÖGLICHES BINDEGLIED: DIE GRUPPENPROPHYLAXE Im Gesetzentwurf des neuen Kinder- und Jugendschutzgesetzes heißt es: „Ein wirksamer Kinderschutz erfor- dert auch eine starke Verantwor- tungsgemeinschaft der hierfür rele- vanten Akteure. Dazu bedarf es eines engeren Zusammenwirkens dieser Akteure, insbesondere zwischen der Kinder- und Jugendhilfe und Ärz- tinnen bzw. Ärzten sowie Angehöri- gen anderer Heilberufe.“ Vielleicht könnten Mitarbeiterinnen und Mit- arbeiter der zahnmedizinischen Gruppenprophylaxe diese wichtige Aufgabe in der Zusammenarbeit zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Angehörigen der Heilberufe wahrnehmen? Durch ihre Tätigkeit sehen sie einen Großteil der Kinder, häufig bereits ab dem Kindergartenalter. Sie sind vertraut mit den behördlichen Struk- turen. Auf diesem Weg könnte das Ziel einer Gesamtrehabilitation von Kindern mit gesicherter Kindeswohl- gefährdung oder bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung von zahnärzt- licher Seite kompetent verfolgt wer- den. Der Mundgesundheitszustand könnte ermittelt und bei Bedarf eine Behandlung eingeleitet werden. WAS DAS ZAHNÄRZTLICHE TEAM BEACHTEN MUSS Zahnärztinnen und Zahnärzte sollten bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung nach den Vorgaben von § 4 KKG vorgehen. Sie sollten die medizinische, familiäre und soziale Anamnese sorgfältig er- heben. Bei Verdacht auf Vernachläs- sigung können folgende Fragen hilf- reich sein: \ Wann haben die Eltern erste Veränderungen an den Zähnen bemerkt? \ Was wurde in der Folge unternommen? Bei Verdacht auf Misshandlung sollte darauf geachtet werden, ob es eine plausible Erklärung für die Verletzun- gen gibt: \ Gibt es unterschiedliche Erklärungen durch verschiedene Personen? \ Besteht eine Diskrepanz der geschilderten Verletzungen zum Entwicklungsstand des Kindes? Andere Ursachen (Unfälle oder Er- krankungen), die eine Misshandlung imitieren könnten, sollten differen- zialdiagnostisch abgeklärt werden. SINNVOLL: INTERDISZIPLINÄR VORGEHEN Unter Umständen ist ein interdiszipli- näres, multiprofessionelles Vorgehen sinnvoll, indem ein Kinder- und Ju- gendarzt oder eine pädiatrische oder unfallchirurgische Fachabteilung in einem Krankenhaus mit Einverständ- nis des Patienten und der Erziehungs- berechtigten einbezogen werden. Die Befunde, Sorgen und die Situation sollten mit dem Kind oder Jugend- lichen und den Erziehungsberechtigten erörtert werden. Vorwürfe oder Schuld- zuweisungen sollten im Gespräch un- bedingt vermieden werden. Ressourcen und Belastungen der Familie sollten eruiert und eine Gefährdungseinschät- zung vorgenommen werden. Weiter- hin sollten angemessene Therapien an- geboten und Zielvorgaben mitgeteilt werden. Soweit erforderlich sollte auf die Inanspruchnahme von Hilfen hin- gewirkt werden. Wichtig ist eine sorgfältige Dokumen- tation der Befunde, des Gesprächs (gegebenenfalls mit wörtlichen Aus- sagen des Kindes, Jugendlichen oder Erziehungsberechtigten) und – falls möglich – mit Fotos. Werden Termine nicht wahrgenommen, sollte man die Gründe für das Versäumen oder die Absage erfragen, diese dokumentieren und weitere Termine anbieten. Bei Bedarf kann eine Beratung der Zahnärztin oder des Zahnarztes durch eine insoweit erfahrene Fachkraft bei der regionalen Jugendhilfe oder der Medizinischen Kinderschutzhotline (Tel.: 0800 19 210 00) in Anspruch genommen werden. Hierfür sind die Daten des Patienten zu pseudonymi- sieren. Kann die Situation für das Kind oder den Jugendlichen nicht verbes- sert werden, können dem Jugendamt die erforderlichen Daten mitgeteilt werden. Die Erziehungsberechtigten sind vorab darauf hinzuweisen. HILFREICH: KONTAKT ZU KINDERSCHUTZ-NETZWERKEN Es ist sinnvoll, dass am Kinderschutz interessierte Zahnärztinnen und Zahnärzte Kontakt zu regionalen Kin- derschutz-Netzwerken aufnehmen, um Strukturen abzusprechen (§ 3 KKG). Dieses erleichtert eine erfolg- reiche Kommunikation und Koopera- tion bei einem Verdacht auf Kindes- wohlgefährdung. Abschließend muss unterstrichen werden, dass das zahnärztliche Be- handlungsteam nicht dafür verant- wortlich ist, eine Diagnose „Kindes- misshandlung” oder „Kindesvernach- lässigung” zu stellen. Der gesetzliche Auftrag zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung liegt beim Jugendamt. Das zahnärztliche Be- handlungsteam sollte jedoch die Be- denken in angemessener Weise mit den entsprechenden Stellen teilen, damit gemeinsam Wege gefunden werden, um die Situation für das Kind oder den Jugendlichen zu ver- bessern. \ Dr. Reinhard Schilke war maßgeblich an der Erstellung des zahnmedizinischen Teils der AWMF-Kinderschutzleitlinie beteiligt, die 2019 veröffentlicht wurde. Alle Dokumente zur Leitlinie: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ ll/027–069.html. Einen Bericht zur Leitlinie finden Sie in den zm 8/2019. DR. REINHARD SCHILKE Klinik für Zahnerhaltung, Parodontologie und Präventive Zahnheilkunde, Medizinische Hochschule Hannover (MHH) 44 | POLITIK

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