Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 15-16

zm 111, Nr. 15-16, 16.8.2021, (1444) losen Unterkiefers mit einem mitti- gen Einzelimplantat mit Kugelkopf- anker eine Therapie vorschlägt, die zwar nicht als „Goldrand-Lösung“ gelten mag, jedoch als „frugale pro- thetische Intervention“ sehr wohl ihre Berechtigung hat (siehe Mat- thias Kern et al.: Minimierter Auf- wand – hoher Nutzen: 44 praxisre- levante Beispiele: Frugale Methoden in der prothetischen Zahnmedizin, zm 109 [2019], S. 2398–2404). Auf der anderen Seite steht der Praxisinhaber, der ganz offensichtlich mit dieser Therapieoption nicht ver- traut ist und sie deshalb (und mögli- cherweise auch im Hinblick auf wirt- schaftliche Erwägungen im Sinne einer Umsatzsteigerung) kategorisch verwirft. Durch das harsche Auftreten von H. kommt es zu einer unschönen konfrontativen Situation, der sich die Beteiligten zunächst ohne klärendes Gespräch entziehen. Dennoch scheint die dargelegte Behandlungs- option für den Patienten so überzeu- gend gewesen zu sein, dass er – ob- wohl durch das Gespräch vom Vortag noch peinlich berührt – abermals mit S. Kontakt aufnimmt. Bei der Frage, wie sich S. in dieser Situation aus ethischer Sicht richtig verhalten kann, helfen wiederum die Kriterien der sogenannten Prinzipien- ethik nach Beauchamp und Chil- dress. BENEFIZIENZ So ist zunächst das Nichtschadens- gebot (Non-Malefizienz) zu betrach- ten, das hier eng mit dem Wohltuns- gebot (Benefizienz) in Beziehung steht. Patient W. hat trotz mehrfacher zahnärztlicher Intervention aufgrund der ausgeprägten Alveolarkammatro- phie des Unterkiefers massive Proble- me mit dem Halt seiner Prothese, was sich negativ auf seine Lebensqualität auswirkt. Aufgrund seiner finanziel- len Situation kommt eine teure im- plantatgetragene Versorgung nicht infrage, so dass die von S. dargelegte „frugale Methode“ geeignet ist, durch eine damit gut verankerte Prothese zum einen die Gebisssituation adä- quat wiederherzustellen und zum an- deren das Wohlbefinden des Patien- ten zu steigern. NICHTSCHADENSGEBOT Schaden würde dem Patienten hinge- gen, wenn er aus finanziellen Grün- den nicht versorgt werden könnte. Zwar hat H. grundsätzlich recht, dass eine Praxis kein „Experimentierfeld“ ist, jedoch ist dies hier gar nicht das Thema, da sich um ein etabliertes Verfahren handelt. PATIENTENAUTONOMIE Um dem Anspruch von W. auf Wah- rung seiner Patientenautonomie ge- recht zu werden, ist S. verpflichtet, die Nachfragen zu beantworten und gegebenenfalls auch die entsprechen- de Therapieoption weiterzuverfolgen. (Diese Verpflichtungen gelten übri- gens auch für H., da er sich weder ethisch noch rechtlich auf die Positi- on zurückziehen kann, nur über ihm genehme oder geläufige Therapie- optionen aufzuklären). GERECHTIGKEIT/FAIRNESS Das Prinzip Gerechtigkeit/Fairness betrifft nun vor allem das Verhältnis von H. zu seinem Assistenten S.: Als Praxisinhaber kann H. selbstver- ständlich eine „Praxisphilosophie“ oder Behandlungskonzepte für seine Praxis festlegen, die auch angestell- ten Zahnärztinnen und Zahnärzten einen gewissen Handlungskorridor vorgeben. Dies wäre aber auch vor der Einstellung entsprechend zu kommunizieren, um die ärztliche Freiheit des Angestellten nicht zu beschneiden. Im vorliegenden Fall reagiert H. aus nicht eindeutig nachvollziehbaren Gründen – sei es aus Unwissenheit über die Therapieoption oder aus wirtschaftlichen Motiven – irrational und bringt dadurch seinen nach fünf Jahren Berufstätigkeit durchaus erfah- renen Assistenten wie auch den Patienten in eine unangenehme Situation. Diese so stehen zu lassen und W. mit seinen Nachfragen abzu- weisen, würde nicht nur der ärztli- chen Fürsorgepflicht widersprechen, sondern es würden auch Rechte und das berufliche Selbstverständnis von S. berührt, da er hierbei seine eigene fachliche Kompetenz und den Ein- satz für den Patienten hintanstellen müsste. Letztlich würde er durch die- ses Verhalten auch der Praxis und da- mit H. schaden. FAZIT Leider ist durch das ungeschickte Ver- halten von H. bereits eine schwierige Situation entstanden, die aber mit etwas diplomatischem Gespür durch- aus zu retten ist. So schuldet S. dem Patienten W. auf die Nachfrage eine ehrliche und zielführende Antwort – jedes Lavieren würde nicht nur das Vertrauensverhältnis belasten, son- dern aus den dargelegten Gründen sowohl gegen das Prinzip der Patien- tenautonomie als auch gegen das Nichtschadensgebot und das Wohl- tunsgebot verstoßen. Seinem Vorgesetzten gegenüber ist S. wiederum zur Kollegialität und Loya- lität verpflichtet, auch wenn das Ver- halten von H. selbst in der Situation am Vortag nicht kollegial gewesen ist. S. wäre zu raten, mit W. zunächst einen sehr zeitnahen telefonischen oder persönlichen Gesprächstermin (möglichst am gleichen Tag) zu ver- einbaren, der ihm jedoch die Mög- lichkeit eröffnet, vorher den Fall und auch die Situation noch einmal in Ruhe mit H. zu besprechen. So könn- te S. den Bedürfnissen des Patienten gerecht werden, sein eigenes Gesicht wahren und sich auch gegenüber sei- nem Vorgesetzten angemessen und korrekt verhalten. Sollte H. auf seiner Ansicht beharren, erscheint es aus ethischer Sicht gebo- ten (auch dies sollte zwischen S. und H. thematisiert werden), W. an eine Praxis zu verweisen, in der die für ihn angemessene Therapieoption ange- boten wird. Dabei sollte S. jedoch nicht seine eigene Praxisneugrün- dung im Blick haben, da dies gegen- über H. nicht kollegial und loyal wäre – es sei denn, dieser Hinweis kommt von H. selbst oder ist einvernehmlich mit ihm abgestimmt. \ 42 | ZAHNMEDIZIN

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