Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 8

zm112, Nr. 8, 16.4.2022, (775) rechtlich grundsätzlich erlaubte „ganzheitliche Zahnmedizin“ an, sondern ging noch einen Schritt weiter, indem er forderte, dass zwingend ein Sachverständiger zu beauftragen sei, der nicht nur in der Theorie, sondern auch in der praktischen Anwendung damit vertraut sei. Ansonsten handle das Gericht verfahrensfehlerhaft. Bemerkenswert erscheint, dass der BGH bei seinem Urteilsspruch den Begriff „Ganzheitliche Zahnmedizin“ dezidiert in einen Gegensatz zum Begriff „Schulmedizin“ stellte. Damit sprach er der „Schulmedizin“ ein „ganzheitliches“ Merkmal ab. Dies ist jedoch im Hinblick auf den Umstand, dass die heute überprüften und empfohlenen Vorgehensweisen der Medizin und Zahnmedizin den Anspruch haben, umfassende (= „ganzheitliche“) Sichtweisen zu fördern, nicht sachgerecht. Das Urteil sorgte seinerzeit für großes Aufsehen in den Medien und wurde auch in der zahnärztlichen Fachpresse bekanntgegeben [zm, 2017]. Eine inhaltliche Auseinandersetzung seitens der zahnärztlichen Standespolitik, der zahnmedizinischen Wissenschaften, der Medizinethik und der Rechtswissenschaften blieb allerdings bislang weitgehend aus. Das Verfahren dauerte insgesamt 13 Jahre (2007 bis 2020). Es hinterlässt in vielerlei Hinsicht eine gewisse Rechtsunsicherheit, die unter anderem folgende Punkte betrifft: \ Was ist „ganzheitliche“ Zahnmedizin genau? Wie wird sie rechtlich definiert? \ Brauchen sich Zahnärzte, die auf der Grundlage „ganzheitlicher“ Methoden Zähne extrahieren und Kieferknochen ausfräsen, künftig nur noch von solchen Kollegen begutachten lassen, die selbst solche Praktiken durchführen? \ Welche Qualifikation muss ein Gutachter in diesem Zusammenhang konkret besitzen? Was bedeutet dabei „Vertrautheit“ mit „ganzheitlicher“ Zahnmedizin in Theorie und Praxis? \ Wie ist vorzugehen, wenn von einem Gericht auch dann eine praktische Vertrautheit mit „ganzheitlichen“ Methoden gefordert wird, wenn diese gegen ethische Maßstäbe (zum Beispiel NonMalefizienz-Prinzip) verstoßen? ABRECHNUNGSFRAGEN Die Abrechnung von Leistungen, die zur Überversorgung oder Fehlversorgung mit dem Ergebnis vermeidbarer Schäden zu zählen sind, ist nicht immer klar geregelt. Die Problematik kann anhand der Behandlung einer NICO aufgezeigt werden. Im Jahr 2019 wurde dazu ein Beschluss des Beratungsforums für Gebührenrechtsfragen (Gremium aus Mitgliedern der Bundeszahnärztekammer, des PKV-Verbands und der Beihilfestellen) zu NICO (Behandlung einer chronischen Kieferostitis als Störfeld) gefasst. Darin heißt es: „32. Bei der Behandlung der sogenannten NICO (Neuralgia Inducing Cavitational Osteonecrosis), der fettig-degenerativen Osteolyse/Osteonekrose im Kieferknochen oder ähnlichen Diagnosen, handelt es sich um medizinisch nicht notwendige Maßnahmen, da die Wirksamkeit durch wissenschaftlich medizinisch fundierte Studienuntersuchungen nicht belegt ist. Darüber hinaus ist das vermeintliche Krankheitsbild der NICO weder nach ICD-10-Schlüssel noch in den Verzeichnissen der WHO als Erkrankung gelistet. Es besteht daher keine medizinische Notwendigkeit für die Durchführung der Diagnostik und der Behandlung dieser Erkrankung, wie zum Beispiel Cavitat-Diagnostik, OroTox-Tests sowie die Entfernung eines chronischen NICO-Störfelds. Vor diesem Hintergrund kommt nur eine Berechnung gemäß § 2 Abs. 3 GOZ – nach umfassender und qualifizierter Aufklärung – in Betracht“ [GOZ-Beratungsforum, 2019] [Anmerkung des Autors: gemeint sind Leistungen auf Verlangen, die über das Maß einer zahnmedizinisch notwendigen Versorgung hinausgehen]. Diese Beschreibung legt den Schluss nahe, dass das Beratergremium entsprechende Eingriffe eher als Überbehandlung und weniger als Ausgangspunkt oder Bestandteil einer Fehlbehandlung einstuft. Allerdings sind bei den in den vorhergehenden Abschnitten genannten Interventionen auch manche Kriterien der Fehlversorgung, bei der vermeidbare Schäden eintreten, gegeben. Somit stehen auch unter diesem Aspekt konkretere Klarstellungen noch aus. FAZIT Diagnostische und therapeutische Verfahren, die als Alternativ-, Komplementär- und/oder Integrativmedizin beworben werden, spielen zwar auch in der Zahnmedizin eine gewisse Rolle, haben dort allerdings bislang keine sehr große Verbreitung gefunden. Allerdings können solche Eingriffe im Einzelfall erhebliche zahnmedizinische Schäden anrichten. Auch wenn die Zahl der Betroffenen aktuell noch klein zu sein scheint, gibt es ernstzunehmende Entwicklungen, die einen Zuwachs alternativmedizinischer Angebote erwarten lassen. In einem Folgebeitrag in der zm wird auf die Behandlung geschädigter Patienten eingegangen und es werden gesellschaftspolitische Entwicklungen aufgezeigt, die die Verbreitung dieser (zahn)medizinischen Denkmodelle befördern. \ ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden. ZAHNMEDIZIN | 73

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