Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 8

zm112, Nr. 8, 16.4.2022, (774) handelter Zähne zur Vorbeugung einer NICO) als „unethisch“ eingestuft [AAE, 2012]. Die hier beschriebenen Diagnosestellungen, Testmethoden und Eingriffe sind bei näherer Prüfung am ehesten als alternativmedizinische Modelle mit einem hohen Potenzial an Fehlversorgung entsprechend der Klassifikation des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen einzustufen. Eine bedarfsgerechte Versorgung wird danach als indikationsbezogene und fachgerechte Versorgung mit einem positiven medizinischen Netto-Nutzen charakterisiert. Von einer Unterversorgung spricht man, wenn bedarfsgerechte Leistungen nicht erbracht werden oder zur Verfügung stehen. Bei einer Überversorgung werden Leistungen erbracht, die über eine bedarfsgerechte Versorgung hinausgehen. Eine Fehlversorgung ist jede Versorgung, durch die ein vermeidbarer Schaden entsteht [Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, 2002]. RECHTSLAGE, GUTACHTERLICHE FRAGEN Nach Anwendung alternativ(zahn)- medizinischer Behandlungen kommt es zuweilen zu langwierigen gerichtlichen Auseinandersetzungen. Die Problematik lässt sich an einem bemerkenswerten Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH – Az.: VI ZR 203/16, Urteil vom 30. Mai 2017) verdeutlichen. Der BGH hatte in diesem Urteil Serienextraktionen von Zähnen mit nachfolgenden Kieferknochenausräumungen auf der Grundlage von Tests, deren Eignung wissenschaftlichen Überprüfungen nicht standgehalten hatte, offenbar als „ganzheitliche Zahnmedizin“ betrachtet. Allerdings hatte er darauf verzichtet, näher zu erläutern, was man in der Rechtsprechung unter dem Begriff „ganzheitliche Zahnmedizin“ subsumiert und weshalb er im konkreten Streitfall die Auffassung vertrat, dass die geschilderten Vorgehensweisen des Behandlers unter dieser Bezeichnung eingeordnet werden können. Er hatte zwar eingeräumt, dass man hier eine sorgfältige und gewissenhafte medizinische Abwägung von Vor- und Nachteilen unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und des Patientenwohls vornehmen müsse, wobei auch die Untersuchungsund Behandlungsmöglichkeiten der „Schulmedizin“ nicht aus dem Blick verloren werden dürften. Je schwerer und radikaler der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eines Patienten sei, desto höher seien die Anforderungen an die medizinische Vertretbarkeit der gewählten Behandlungsmethode. Gleichwohl sah er die bei der Patientin vorgenommenen hochinvasiven Eingriffe nicht nur als 13 JAHRE RECHTSSTREIT BIS ZUM BGH: ZAHNARZT ZU SCHADENSERSATZ VERURTEILT \ 2006 hatte ein Zahnarzt bei einer Patientin wegen vermuteter „Störfelder“ im Seitenzahnbereich eine Serienextraktion von Zähnen mit anschließender Kieferknochenausfräsung auf der Grundlage bioenergetischer Testmethoden (einschließlich kinesiologischer Testungen) vorgenommen und dabei auf die übliche zahnmedizinische Diagnostik weitgehend verzichtet. Es kam zu schwerwiegenden Folgeschäden. \ 2007 verklagte die Patientin den Zahnarzt wegen dieser Behandlung beim zuständigen Landgericht auf Schadensersatz; 2009 wurde von dort ein später noch ergänztes Sachverständigengutachten eingeholt. \ 2014 wurde der Zahnarzt zur Rückzahlung des Honorars und zur Zahlung von Schmerzensgeld verurteilt (LG Frankenthal Az.: 4 O 450/11, Urteil vom 19. März 2014). Dagegen legte der Zahnarzt Berufung ein. \ 2016 wurde vom zuständigen Oberlandesgericht die Revisionsklage des Zahnarztes im Wesentlichen abgewiesen (OLG Zweibrücken Az.: 5 U 8/14, Urteil vom 19. April 2016). Auch gegen dieses Urteil legte der Zahnarzt Revision ein, so dass der Rechtsstreit beim Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe anhängig wurde. \ 2017 gab der BGH dem Zahnarzt insofern Recht, als er das OLG-Urteil als verfahrensfehlerhaft einstufte, aufhob und die Rechtssache zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwies. Der BGH bemängelte vor allem, dass kein Sachverständiger gehört worden sei, der mit der „ganzheitlichen“ Zahnmedizin in Theorie und (!) Praxis vertraut sei (BGH Az.: VI ZR 203/16, Urteil vom 30. Mai 2017). \ Im gleichen Jahr erfolgte die Einholung eines Gutachtens durch einen mit der „ganzheitlichen Zahnmedizin“ in Theorie und Praxis eng vertrauten Sachverständigen, das allerdings vom OLG als ungenügend eingestuft werden musste und nicht zum Gegenstand der Entscheidung gemacht werden konnte. \ 2019 wurde ein weiteres Gutachten eines Sachverständigen eingeholt, der erklärte, sich zwar im Rahmen der Vorbereitung wissenschaftlicher Studien auch an Probanden mit Theorie und Praxis einiger als „ganzheitlich“ propagierter Verfahren kundig gemacht zu haben, die von dem Zahnarzt angewandten bioenergetischen Methoden allerdings aus ethischen Gründen nicht selbst zu praktizieren. Der Gutachter wurde vom Gericht dennoch mit der Begründung akzeptiert, dass es nach seinem Dafürhalten für die Vorgaben des BGH ausreiche, wenn ein Sachverständiger „allgemein“ mit der ganzheitlichen Zahnmedizin in Theorie und Praxis vertraut sei. Der Sachverständige bewertete das Vorgehen des Zahnarztes in seinem Gutachten von 2019 als grob behandlungsfehlerhaft. \ 2020 erfolgte eine erneute Bestätigung des in erster Instanz getroffenen Urteils des zuständigen Landgerichts aus dem Jahr 2014 durch das zuständige Oberlandesgericht und die Verurteilung des Zahnarztes zu Schadensersatz (OLG Zweibrücken Az.: 5 U 8/14, Urteil vom 14.01.2020). 72 | ZAHNMEDIZIN

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